Michael KöhlmeierBruder und Schwester Lenobel

E-Book (EPUB)

Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (2018)

544 Seiten

ISBN 978-3-446-26130-3

EPUB sofort downloaden
Downloads sind nur für Kunden mit Rechnungsadresse in Österreich möglich!

Kurztext / Annotation
Im Mai mailt Hanna an ihre Schwägerin in Dublin: Komm, dein Bruder wird verrückt! Zwei Tage später landet Jetti Lenobel in Wien - und Robert ist verschwunden. Doch Jetti glaubt nicht daran, dass der Bruder verrückt geworden ist. Sie kennt ihre sehr ungewöhnliche jüdische Familie. In der ist immer mit allem zu rechnen. Dann kommt die Nachricht des Bruders: 'Ich bitte dich, dass Du mit niemandem darüber sprichst!!! Ich will es so. Ich bin in Israel, dem Land der Väter. Aber an die Väter denke ich nicht.'
In den merkwürdigen, verschlungenen Lebensläufen der Geschwister Jetti und Robert, seiner Frau, ihrer Kinder und Freunde, erzählt Köhlmeier packend von dem, was jeder sein Leben lang mit sich trägt.

Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Bei Hanser erschienen die Romane Abendland (2007), Madalyn (2010), Die Abenteuer des Joel Spazierer (2013), Spielplatz der Helden (2014, Erstausgabe 1988), Zwei Herren am Strand (2014), Das Mädchen mit dem Fingerhut (2016) und Bruder und Schwester Lenobel (2018), außerdem die Gedichtbände Der Liebhaber bald nach dem Frühstück (Edition Lyrik Kabinett, 2012) und Ein Vorbild für die Tiere (Gedichte, 2017) sowie die Novelle Der Mann, der Verlorenes wiederfindet (2017) und zuletzt Die Märchen (mit Bildern von Nikolaus Heidelbach, 2019). Michael Köhlmeier wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis.

Textauszug

 

 

1

 

Im Mai noch schrieb Hanna an ihre Schwägerin eine Mail. Ungefähr so: Komm, dein Bruder wird verrückt! Zwei Tage später landete Jetti in Wien Schwechat. Inzwischen schien alles schlimmer. Robert war verschwunden. Gegen Jettis Rat gab Hanna eine Vermisstenanzeige auf. Um Druck zu machen, log sie: Seit einer Woche abgängig, Dr. Robert Lenobel, 55. Dass der Vermisste von Beruf Psychiater und Psychoanalytiker war, ließ den Beamten die Dringlichkeit einsehen.

 

Zu Hause bei ihrer Schwägerin in der Garnisongasse im 9. Wiener Gemeindebezirk, während sie ihre Kleider aus dem Koffer nahm und an den Fensterrahmen hängte, fragte Jetti: »Warum bin ausgerechnet ich hier, Hanna? Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen ... wenn Robert nicht bereits abgehauen wäre?«

»Nicht bereits abgeHAUEN?«, wiederholte Hanna, die auf der Schwelle stand, die Arme verschränkt, und ihr zusah, und rief das letzte halbe Wort in das Zimmer hinein wie von der Bühne herunter. »Du tust so, als hätte er das von Anfang an vorgehabt. Das ist aber nicht wahr, Jetti!« Hoch, eckig, empörte Augen, scharfkantiges, porzellanhelles Gesicht, bereit zu streiten.

»Ich verstehe nicht«, sagte Jetti. »Von welchem Anfang an?«

Und Hanna dagegen: »Sag du mir von welchem AnFANG an, Jetti! Ich weiß nichts von einem Anfang ... nicht in diesem Zusammenhang jedenfalls.«

»Ist ja gut«, sagte Jetti; dachte, sie hat doch von einem Anfang gesprochen, nicht ich; streckte aber die Hand nach ihrer Schwägerin aus. Wenn Hanna verzweifelt war oder unglücklich, das hatte sie nicht vergessen, oder zornig oder aus irgendeinem Grund giftig gelaunt, betrieb sie Wortklauberei, als wüchse das Gift wie Unkraut zwischen Subjekt und Prädikat, Konjunktion und Adverb, und man müsste es nur herauszupfen, und Verzweiflung, Unglück, Zorn und Laune lösten sich auf. Das hatte Hanna von ihrem Mann. Robert meinte, wenn er die Wörter haut, haut er die Welt. Nach dieser Pfeife konnte Jetti aber nicht tanzen, selbst wenn sie es um des Friedens willen gewollt hätte; über Worte musste sie nachdenken, länger als andere, zu lang auf jeden Fall, um sich auf Schlagfertigkeiten einzulassen. »Ist gut, Hanna«, versuchte sie zu besänftigen. »Aber sag mir doch, warum hast du mich gerufen? Was kann ich tun? Was hätte ich tun können?«

»Ihn daran hindern«, schluchzte Hanna.

»Ich bin seine Schwester, du seine Frau«, sagte Jetti. Ein Ton geriet ihr, der nun doch streitsüchtig klang, obwohl sie das Gegenteil fühlte - das Gegenteil von streitsüchtig war doch die Bereitschaft zu schlichten, und nur das wollte sie; deswegen war sie gekommen. Sie war darauf gefasst gewesen, einen Streit zwischen Bruder und Schwägerin schlichten zu sollen - diesmal einen, so interpretierte sie die Mail, der, wer weiß, so tief wurzelte, dass die Eheleute sich nicht mehr an die Ursachen der Ursachen erinnerten und jemanden brauchten, der sie hinunterführte - oder so ähnlich, wie sich Robert ausdrücken würde, wenn die Seelen anderer Menschen zur Disposition stünden und nicht seine eigene und die seiner Frau ...

»Was, Hanna, kann ich, was du nicht kannst?« Die Frage war sachlich gemeint, pragmatisch.

»Ach, Jetti, hör auf!«, wurde sie angefahren.

Da zog Jetti ihre Hand zurück.

 

 

2

 

Dabei hätte sie es wenigstens ahnen müssen ... Hannas erste Worte, als Jetti durch die automatische Schiebetür in die Ankunftshalle getreten war - die beiden hatten einander seit fünf Jahren nicht gesehen: »Man weiß nicht, warst du schöner gewesen mit zwanzig oder mit dreißig oder mit vierzig, oder bist du jetzt mit fast fünfzig am schönsten?« Dann hatte sie Jetti den Koffer aus der Hand genommen und war losmarschiert, einen Met



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet