Norbert GstreinAls ich jung war

E-Book (EPUB)

Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (2019)

352 Seiten

ISBN 978-3-446-26545-5

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Kurztext / Annotation
'Norbert Gstrein ist ein Meister des 'zwielichtigen' Erzählens. Er setzt Zeichen um Zeichen. Man folgt seinem Konstrukt und seinem bewundernswert klaren Satzbau mit Spannung.' Aus der Jurybegründung zur Verleihung des Österreichischen Buchpreises 2019
Am Anfang ist da nur ein Kuss. Aber gibt es das überhaupt, nur ein Kuss? Franz wächst im hintersten Tirol auf. Er fotografiert Paare 'am schönsten Tag ihres Lebens', bis bei einer Hochzeitsfeier die Braut ums Leben kommt. Was hat das mit ihm zu tun? Was damit, dass er nur Wochen zuvor am selben Ort ein Mädchen geküsst hat? Vor diesen Fragen flieht er bis nach Amerika. Doch dann stirbt auch dort jemand: ein Freund, in dessen Leben sich ebenfalls mögliche Gewalt und mögliche Unschuld die Waage halten. Was wissen wir von den anderen? Was von uns selbst? Hungrig nach Leben und sehnsüchtig nach Glück findet sich Franz in Norbert Gstreins Roman auf Wegen, bei denen alle Gewissheiten fraglich werden.

Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt unter anderem den Alfred-Döblin-Preis, den Uwe-Johnson-Preis und 2019 den Österreichischen Buchpreis. Bei Hanser erschienen Die Winter im Süden (Roman, 2008), Die englischen Jahre (Roman, Neuausgabe 2008), Das Handwerk des Tötens (Roman, Neuausgabe 2010), Die ganze Wahrheit (Roman, 2010), In der Luft (Erzählungen, Neuausgabe 2011), Eine Ahnung vom Anfang (Roman, 2013), In der freien Welt (Roman, 2016), Die kommenden Jahre (Roman, 2018) und Als ich jung war (Roman, 2019).

Textauszug
ERSTES KAPITEL

Nach dem Unglück, das dort vor dreizehn Jahren passiert ist, hätte ich nie gedacht, dass im Schlossrestaurant jemals wieder Hochzeitsfeiern stattfinden würden, und schon gar nicht, dass ausgerechnet mein Bruder sie von neuem anbieten könnte. Bis dahin und noch ein Jahr darüber hinaus, weil so lange der Vertrag lief, war unser Vater der Pächter gewesen. Danach hatte sich über Monate kein Nachfolger gefunden, und dann fand sich einer, der auf eine ganz andere Klientel aus war, eine Pizzeria eröffnete, im Keller eine Kegelbahn einrichtete, zwei Zielscheiben für Darts aufhängte und darauf setzte, dass die Geschichte mit der toten Braut entweder in Vergessenheit geraten oder im Gegenteil sogar eine makabere Attraktion werden würde. Man hatte meinem Bruder gegenüber mehreren Mitbewerbern den Vorzug gegeben, als die Pacht im vergangenen Jahr erneut ausgeschrieben worden war, und er hatte das Restaurant in kürzester Zeit zu seinem früheren Ruf geführt, ja, sich sogar weit über die Region hinaus Anerkennung erkocht, wie es hieß, und wollte deswegen in Zukunft auch wieder an die alte Tradition mit der Heiraterei anschließen.

In meiner Kindheit hatten wir gewöhnlich zwei oder drei Wochen nach Ostern, wenn die Wintersaison vorbei war, unser Hotel in den Bergen verlassen und das Restaurant bezogen, und dann begann es auch schon mit den Hochzeiten, Wochenende für Wochenende, oft zwei, eine am Freitag, eine am Samstag, bis in den September hinein oder gar bis Anfang Oktober. Das Hotel blieb im Sommer geschlossen, unser Vater fuhr alle paar Tage hin, um nach dem Rechten zu sehen, und erst nach Allerheiligen, wenn es oft schon wieder schneite, packten wir unsere Sachen zusammen, verriegelten alles und kehrten nach Hause zurück. Ich war damit aufgewachsen, im Winter das Hotel und die Skischule, im Sommer die Hochzeitsfabrik, wie zuerst unser Vater sie ironisch nannte, wie sie dann aber von allen ernsthaft tituliert wurde, ohne dass dadurch die Anziehungskraft litt. Man heiratete im Schloss, auch wenn es in Wirklichkeit keines war und nur so hieß, man heiratete bei unserem Vater, der diese Position irgendwann ein für alle Mal besetzt hatte. Kaum jemand aus den umliegenden Dörfern schlug sein Angebot aus, aber die Leute kamen auch aus der Stadt, entschieden sich für eine der drei Möglichkeiten, Standard, Medium oder Extraklasse, und ließen sich von unserem Vater beraten, der für alles garantierte, nur nicht für das Glück. Er warb leicht anzüglich damit, dass er den Brautpaaren an ihrem Freudentag abnehmen würde, was er ihnen abnehmen könne, damit sie für das, was er ihnen nicht abnehmen konnte, Kopf und Hände frei hätten. Dazu versprach er ihnen sogar schönes Wetter oder bei Schlechtwetter einen satten Rabatt, und sie wählten ein oder zwei kleine Extravaganzen, die Fahrt in der offenen Kutsche die Serpentinen zu dem kleinen Plateau herauf, von dem sich der sogenannte Schlossberg mit der Burgruine aus dem vierzehnten Jahrhundert erhebt, das Engelsspalier mit dem geflügelten Kinderchor oder den Schleiertanz. Den hatte unser Vater allerdings erst in den allerletzten Jahren angeboten, und es war ein zweifelhaftes Erlebnis, zuzuschauen, wie sich eine Schauspielerin aus dem Landestheater auf dem Boden wand und räkelte, als hätte sie den Verstand verloren.

Ich war fünfzehn, Internatsschüler, und hatte noch kein Mädchen geküsst, als ich bei den Feiern zu fotografieren begann. Zwei Jahre davor hatte mir unser Vater zum Geburtstag eine Kamera geschenkt, und weil er auf alles mit dem Blick des Geschäftsmannes sah und gleichzeitig keinen falschen Respekt vor den falschen Künsten hatte, wie er sagte, wunderte ich mich nicht, dass er irgendwann mit dem Vorschlag kam, wir könnten das Fotografieren inklusive anbieten, das bisschen Knipserei würde ich schon zustande bringen. Zuerst wehrte ich mich, wie ich mich gewehrt hatte, im Hotel beim Servieren zu helfen oder den Skischülern die ersten Schwünge



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