Nora BossongSchutzzone

E-Book (EPUB)

Suhrkamp Verlag (2019)

320 Seiten

ISBN 978-3-518-75286-9

EPUB sofort downloaden
Downloads sind nur für Kunden mit Rechnungsadresse in Österreich möglich!

Kurztext / Annotation

Nach Stationen bei der UN in New York und Burundi arbeitet Mira für das Büro der Vereinten Nationen in Genf. Während sie tagsüber Berichte über Krisenregionen und Friedensmaßnahmen schreibt, eilt sie abends durch die Gänge der Luxushotels, um zwischen verfeindeten Staatsvertretern zu vermitteln. Als ihre Rolle bei der Aufarbeitung des Völkermords in Burundi hinterfragt wird, gerät Miras Glaube, sie könne von außen eingreifen, ohne selbst schuldig zu werden, ins Wanken.

Was bedeuten Gerechtigkeit, Vertrauen und Verantwortung? Wie greifen Schutz und Herrschaft ineinander? Wie verhält sich Zeugenschaft zur Wahrheit? Und wer sitzt darüber zu Gericht? Hellsichtig und teilnahmsvoll geht Nora Bossong in ihrem virtuosen Roman diesen Fragen nach und setzt den Konflikten der Vergangenheit die Hoffnung auf Versöhnung entgegen.



Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, schreibt Lyrik, Romane und Essays, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis. Nora Bossong lebt in Berlin.

Textauszug
Genf. Februar 2017

Das Beau-Rivage hat 94 Zimmer und 15 Suiten. Durch die Fenster sieht man hinaus auf den Genfer See, in dem sich die große Welt spiegelt, die eben doch nur eine kleine Stadt am unteren Zipfel der Schweiz ist. Der Mittelpunkt Europas könnte in einer dieser Suiten liegen oder im Konferenzsaal, den sie an jenem Abend mit exotischen Blumen geschmückt hatten. Die Badewanne aus Zimmer 317, die nach Barschels Tod lange auf dem Speicher des Hauses gelagert hatte, war von einem Angestellten falsch beschriftet und versehentlich entsorgt worden, sonst geschahen in diesem Haus selten Missgeschicke, und als ich ein wenig zurückgewichen von den anderen meinen Blick durch den Raum schweifen ließ, die in sich gekrümmten roten Blütenblätter neben der Bühne betrachtete und die Gesichter der schwarzen Zedernholzdiener, die dekorativ in den Ecken platziert waren und hier den Kolonialismus noch einmal in einer verzückten Dekadenz zeigten, heiter, fast überlegen, wie Figuren eines Molièrestückes, die wissen, dass die Zusammenhänge und Liebschaften und Herkünfte doch alle anders sind, als uns die Herrschenden glauben machen wollen, da hätte ich ebenso gut den Mann übersehen können, zumindest versäumen, seinen Namen auf dem am Revers angehefteten Plastikschild zu lesen, der mir vertraut, fast intim vorkam und den ich dennoch für einen Moment nicht zuordnen konnte.

Man müsse, ja man dürfe nichts beschönigen, beschwor Monsieur le Commissaire und zählte die bescheidenen Teilerfolge im Südsudan auf, nippte an seinem Wasserglas, ich ließ meinen Blick wieder auf den Mann neben dem spitz aufragenden Blumenschmuck fallen, registrierte seine hohen Augenbrauen, den dunklen Ausdruck seines Gesichts, und da wusste ich, dass ich mit ihm, als er noch längere Haare und jungenhafte Gesichtszüge gehabt hatte, einige Zeit lang jeden Tag am Mittagstisch zusammengesessen hatte.

Man dürfe eben nicht vor dem zurückschrecken, was unmöglich erscheint, betonte Monsieur le Commissaire, während ich Milan noch immer anstarrte und er endlich meinen Blick erwiderte, erst verwundert, aber schneller mich wiedererkennend, als es mir gelungen war, und doch!, hörte ich auf der Bühne Monsieur le Commissaire sagen, Milan lächelte dezent, und doch hätten wir aneinander vorbei unbeschadet aus diesem Abend gehen können, ich hätte gegen elf Uhr ein wenig müde, ein wenig gleichgültig an meiner Haustür den Code eingegeben und kurz darauf, drei Etagen höher, die Pumps von den Füßen gestreift. Vielleicht wäre irgendein Kollege noch wach gewesen, vielleicht wäre er ans Telefon gegangen.

Wenn ich heute an den Abend zurückdenke, sehe ich die spitz zulaufenden Strelitzien überall um mich herum, ihren Kelch wie einen Vogelschnabel vorgereckt, die Blüten als exzentrischer Kopfschmuck spitz aufragend, überall im Raum stehen sie in meiner Erinnerung, viel mehr, als es tatsächlich gewesen sein können. Ihren Namen hatten sie einst zu Ehren der Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz erhalten, wie ich Monate später las, als Milan wieder aus meinem Leben verschwunden war und ich ihn als Phantom zurückzuholen versuchte, um alles besser zu begreifen, dabei hätte ich ihn lieber vertreiben sollen, denn Gespenstern sind wir unterlegen, sie setzen sich über unsere kleinkarierte Vernunft hinweg, und das Gespenst von Milan nahm herrisch in Beschlag, was noch da war von mir, als könne er nichts gehen lassen, auch das nicht, was ihn nicht mehr interessierte, was noch übrig war von meinem Feierabend in einer zu kleinen, zu teuren Wohnung und von meinem unscheinbaren Büroleben, unscheinbar trotz all der weltläufigen Namen in den Berichten, die ich an meinen Vorgesetzten weiterreichte.

Milan hatte nur noch wenige Monate in Genf, ehe er im Herbst nach Den Haag gehen würde, wie er mir nicht unhöflich, aber doch so zurückhaltend erzählte, als wolle er darauf beharren, dass ich zwar mit seiner Vergangenheit, nicht aber m



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet