Scott AndersonZerbrochene Länder

E-Book (EPUB)

Suhrkamp Verlag (2017)

180 Seiten

ISBN 978-3-518-75468-9

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Kurztext / Annotation

»Manchmal fließt die Geschichte der Menschheit bedächtig vor sich hin, manchmal bewegt sie sich sehr schnell.« Diesen Satz formulierte Muammar al-Gaddafi 2002 gegenüber Scott Anderson. Tatsächlich hat sich die Geschichte im Nahen Osten überschlagen, seit die USA 2003 im Irak einmarschiert sind: 2011 weckte der Arabische Frühling Hoffnungen, doch bald versanken Länder wie Syrien und der Irak im Chaos, von dem wiederum der Islamische Staat profitierte. Millionen Menschen flohen aus Syrien in Nachbarstaaten und nach Europa.

Anhand der Erlebnisse von sechs Menschen schildert Anderson die Geschichte einer zerbrechenden Region. Er begleitet den jungen Iraker Wakaz, der sich vorübergehend dem IS anschließt, Laila, die Witwe eines prominenten ägyptischen Menschenrechtsanwalts, deren Sohn innerhalb kurzer Zeit von drei Regimes inhaftiert wird, und Majd, den seine Flucht von Homs über das Mittelmeer bis nach Dresden führt. Illustriert wird Andersons Großreportage mit Aufnahmen des renommierten Fotografen Paolo Pellegrin. Ein einmaliges zeitgeschichtliches Dokument.



Scott Anderson, geboren 1959, ist ein amerikanischer Schriftsteller und Kriegsberichterstatter. Er schreibt u. a. für GQ, Vanity Fair und das Magazin der New York Times. Sein 2013 erschienenes Buch Lawrence in Arabia gilt bereits heute als Klassiker der biografischen Literatur.



Textauszug
7PROLOG

Bevor wir mit dem Auto in den Nordirak fahren, tauscht Dr. Azar Mirkhan seine westliche Kleidung gegen die traditionelle Kluft kurdischer Peschmerga: Er streift eine eng anliegende kurze Wollweste über sein Hemd, schlüpft in bauschige Pluderhosen und legt einen breiten Kummerbund an. Dann kommen die speziellen Accessoires der kurdischen Streitkräfte: ein Kampfmesser, das er ordentlich an seinem Kummerbund befestigt, eine geladene Pistole, Kaliber .45, und ein Feldstecher für Scharfschützen. Sollte es besonders heikel werden, liegt sein M4-Sturmgewehr griffbereit auf dem Rücksitz; zusätzliche Magazine hat er im Fußraum verstaut. Der Arzt zuckt mit den Schultern: »Ist eine unsichere Gegend.«

An diesem Maitag im Jahr 2015 wollen wir an den Ort fahren, mit dem Azar seinen größten Schmerz verbindet - einen Schmerz, der ihn bis heute verfolgt. Im vorigen Jahr haben Kämpfer des Islamischen Staates (IS) eine blutige Schneise durch den Nordirak geschlagen, die ihnen zahlenmäßig weit überlegenen irakischen Truppen in die Flucht geschlagen und schließlich ihre Aufmerksamkeit den Kurden zugewandt. Azar hatte genau vorhergesagt, an 8welcher Stelle die Mörder des IS als Nächstes zuschlagen würden. Er hatte gewusst, dass ihnen Tausende Zivilisten hilflos ausgeliefert waren. Doch niemand hatte auf ihn und seine Warnungen gehört. In seiner Verzweiflung hatte er seinen Wagen mit Waffen beladen und war schnellstmöglich zum Ort des Geschehens gefahren. An einer bestimmten Stelle auf der Straße sah er, dass er nur wenige Stunden zu spät gekommen war. »Es war offensichtlich«, erklärt Azar, »einfach offensichtlich. Aber niemand wollte mir glauben.« An diesem Tag kehren wir dorthin zurück, wo die sagenumwobenen kurdischen Krieger des Nordirak ausmanövriert und zum Rückzug gezwungen wurden - an die Stelle, an der es Dr. Azar Mirkhan nicht gelungen war, eine kolossale Tragödie abzuwenden, und an der er noch monatelang gegen den IS kämpfen sollte.

Eigentlich ist Azar praktizierender Urologe, doch selbst ohne seine Waffen und seine Kriegerkluft strahlt der 41-Jährige die Aura eines Jägers aus. Wenn er geht, schreitet er auf merkwürdige Art und Weise voran, so dass er kaum ein Geräusch dabei macht; im Gespräch neigt er dazu, sein Kinn zu senken und unter schweren Lidern sein Gegenüber anzublicken, als würde er es mit einer Waffe anvisieren. Mit seiner markanten Nase und seinen pechschwarzen Locken erinnert er ein wenig an den jungen Johnny Cash.

Das Waffenarsenal des Arztes passt gut zu seiner persönlichen Philosophie, wie sie in einer Szene seines Lieblingsfilms, Zwei glorreiche Halunken, zum Ausdruck kommt: Eli Wallach wird in der Badewanne von einem Mann überrascht, der ihn töten will, doch sein potenzieller Mörder setzt zu einem triumphierenden Monolog an, statt Wallach auf der Stelle zu erschießen. So gelingt es Wallach, seinem Häscher zuvorzukommen und ihm den Garaus zu machen.

9»'Wer schießen will, der soll schießen und nicht quatschen'«, zitiert Azar den Film. »So ist das bei uns Kurden mittlerweile. Das ist nicht die Zeit zum Reden, sondern um zu schießen.«

Dr. Azar Mirkhan ist einer von sechs Menschen, deren Leben auf diesen Seiten erzählt wird. Diese sechs stammen aus unterschiedlichen Regionen, Städten, Stämmen und Familien. Doch sie teilen mit Millionen anderer Menschen im Nahen Osten das Schicksal, in einer aus den Fugen geratenen Welt zu leben. Die Umbrüche und Unruhen, die 2003 mit dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen in den Irak begannen und letztlich in Aufständen und Revolutionen mündeten, die im Westen als »Arabischer Frühling« bekannt geworden sind, haben ihr Leben für immer aus den Angeln gehoben. Aufgrund der Verwüstungen des IS sowie der von Terroranschlägen und zerfallenen Staaten in der Region dauern diese Entwicklungen bis heute an.

Es war jeweils ein einzelnes Ereignis, das jeder dieser sechs



Beschreibung für Leser
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Paolo Pellegrin, geboren 1964 in Rom, gehört zu den führenden Fotojournalisten unserer Zeit. Das Mitglied der legendären Agentur Magnum lebt in New York und Rom und wurde berühmt mit seinen Kriegsbildern aus Kosovo, Darfur und Libanon, die er als "Aufzeichnungen für das kollektive Gedächtnis" auffasst.