Paul MasonKlare, lichte Zukunft

E-Book (EPUB)

Suhrkamp Verlag (2019)

415 Seiten

ISBN 978-3-518-76125-0

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Kurztext / Annotation

Stellen Sie sich vor, Sie geben die Kontrolle über große Teile Ihres Lebens an ein Computerprogramm ab, von dem es heißt, es regele das Zusammenleben effektiver als jeder Staat. Was vielen als undenkbar erscheinen mag, erweist sich als bittere Realität, wenn man »Computerprogramm« durch »Markt« ersetzt. Ging der Kapitalismus bislang mit liberalen Freiheitsrechten einher, so nimmt er unter Herrschern wie Putin oder Trump zunehmend autoritäre Züge an. Können diese nun auch noch auf die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz und digitaler Überwachung zurückgreifen, ist der Mensch als autonomes Wesen in Gefahr.

Um die Werte der Aufklärung in die Zukunft zu retten, legt Paul Mason eine radikale Verteidigung des Humanismus vor. Ausgehend von Karl Marx' Frühschriften entwirft er ein Bild vom Menschen, das ihn als ein selbstbestimmtes und zugleich gemeinschaftliches Wesen zeigt. Mason begleitet uns an die Orte vergangener und gegenwärtiger Kämpfe um Würde und Gerechtigkeit, von der Pariser Kommune über das von der Sparpolitik gebeutelte Griechenland bis hin zum Protest indigener Aktivisten auf der Inselgruppe Neukaledonien. Die Erben der Frauen und Männer auf den Barrikaden von damals, so Mason, sind die vernetzten Individuen von heute.



Paul Mason, geboren 1960 in der Industriestadt Leigh im Nordwesten Englands, ist Autor, Aktivist und vielfach ausgezeichneter Fernsehjournalist. Mason arbeitete lange für die BBC und Channel 4 News und schreibt regelmäßig für den Guardian. Sein Buch Postkapitalismus (st 4845) war weltweit ein Bestseller; Klare, lichte Zukunft wurde 2020 mit dem Erich-Fromm-Preis ausgezeichnet.

Textauszug
1
Der Tag null

Ross kommt angerannt, seine Kamera läuft. Er tippt mich an die Schulter und öffnet den Mund, aber ich zeige auf die an meinem Helm montierte GoPro und forme leise die Lippen zu dem Wort »live« - womit ich ihm zu verstehen gebe, dass er nichts sagen soll, was später gegen uns verwendet werden könnte. Vor Kurzem haben wir gemeinsam die Unruhen in Istanbul gefilmt. Das hier ist etwas anderes.

Augenblicke später begegne ich Brandon, der sich ebenfalls ins Getümmel gestürzt hat. Wie ich berichtet er seit 2011 über eine Serie von Protestkundgebungen und Unruhen: Kairo, Athen, Istanbul. Jetzt klatschen wir uns im Vorbeilaufen kurz ab, während irgendwo Fensterscheiben bersten. Ein Geländewagen steht in Flammen. Blendgranaten blitzen auf, Tränengasschwaden hängen über der Straße.

Etwa tausend ganz in Schwarz gekleidete und maskierte junge Leute sind im Stadtzentrum ausgeschwärmt und liefern sich Verfolgungsjagden mit der Bereitschaftspolizei. Und der Zufall will es, dass wir drei einander inmitten dieses Getümmels auf wenigen Quadratmetern des städtischen Schlachtfelds begegnen: Ross, Brandon und ich sind Veteranen der Berichterstattung über Länder, die den Bach runtergehen.

Es ist der 20. Januar 2017. Der Ort ist Washington, D.__C. Der soziale Krieg, der seit geraumer Zeit an den Rändern des globalen Systems tobt, hat jetzt auch sein Zentrum erreicht. Wir sind nur zwei Straßenzüge vom Weißen Haus entfernt. Donald Trump ist seit wenigen Minuten Präsident.

Die Polizisten stehen dem wachsenden Aufruhr ratlos gegenüber: Sie sind für Situationen ausgebildet, in denen die Leute entweder ihren Anweisungen gehorchen oder erschossen werden. Heute können sie keinen Gehorsam erwarten, und sie dürfen nicht schießen. Also hetzen die vom militarisierten Nichtstun geschwächten und unter dem Gewicht sinnloser Ausrüstung stöhnenden Uniformierten atemlos den Demonstranten hinterher. Als eine junge Frau, die ein Fahrrad schiebt, ins Stolpern gerät und im Fallen drei Polizisten mit sich reißt, eilen einige Kollegen herbei, um die Fahrerin und ihr Rad niederzuknüppeln, während andere versuchen, ihr aufzuhelfen. Der Soundtrack ist klassische Krawallmusik: Sirenen, aus Funkgeräten knisternde Befehle, das Bersten einer eingeschlagenen Fensterscheibe in einer Starbucks-Filiale, und junge Amerikaner, die »No facist USA!« skandieren.

Schließlich greift die Polizei geschlossen an. Aus zwei Zentimeter dicken Schläuchen spritzt mit Tränengas versetztes Wasser. Einige Jugendliche in schwarzen Sturmhauben weigern sich, den Rückzug anzutreten. Sie bilden einen Keil, spannen schwarze Regenschirme auf, um sich zu schützen, und greifen die Polizeiphalanx an. Ein nicht maskierter Demonstrant liegt bäuchlings auf der Straße, als ein Polizist einen Taser auf ihn richtet. Der etwa zwanzigjährige Mann hat einen blonden Lockenkopf, und in seinem Gesicht ist keine Andeutung von Furcht zu sehen. Er schaut den Polizisten an und sagt ruhig in die auf ihn gerichteten Kameras: »Fuck Donald Trump. Fuck Donald Trump.«

Als sich die Aufrührer zerstreuen, beginnt die Polizei, kleine Gruppen von Demonstranten durch die Stadt zu jagen. Die Intensität nimmt zu: Wir laufen vorbei an der American Development Bank, an Joe's Stone Crab, an den seelenlosen Bürogebäuden, in denen die Lobbyisten zuhause sind. Wir hetzen durch die zersplitterte Landschaft der Normalität, und während dieser panischen Flucht vor einem langsamen, roboterhaften Feind fühle ich mich in eine Filmszene versetzt. Aber ich kann mich nicht erinnern, welche Szene es ist.

Am Abend vor Trumps Vereidigung treffe ich einen 72-jährigen Farmer aus Tennessee. »Was halten Sie davon?«, fragt er, wobei er mit dem Kopf eine Geste in Richtung der Worte »Fuck Trump« macht, die jemand am Franklin Square mit Kreide auf den Boden gemalt hat. Er trägt ein dickes rotes Cowboyhemd und macht ein gequältes Gesicht.



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