Philipp BlomDas große Welttheater

E-Book (EPUB)

Paul Zsolnay Verlag (2020)

128 Seiten

ISBN 978-3-552-05996-2

EPUB sofort downloaden
Downloads sind nur für Kunden mit Rechnungsadresse in Österreich möglich!

Kurztext / Annotation
'Das große Welttheater ist ein Ort, an dem die Welt sich neu erfinden kann.' Philipp Bloms Analyse der gegenwärtigen Umbrüche
Wir leben in der besten aller Welten: Nie zuvor gab es so lange Frieden bei uns, nie waren wir so reich, so sicher. Diese Geschichten erzählen wir uns selbst. Was aber, wenn sie nicht der Wirklichkeit entsprechen? Wenn die Demokratien bröckeln, der Hass zwischen den sozialen Gruppen wächst, das Wirtschaftswachstum stagniert, die Gefahr einer Klimakatastrophe steigt? In seinem großen Essay zeigt Philipp Blom, wie es möglich ist, dass der Westen nicht trotz, sondern wegen Frieden und Wohlstand in einer Krise steckt. Nichts in unserer Vergangenheit hat uns darauf vorbereitet. Die Zeichen stehen auf Sturm, und der Kampf um die Zukunft wird auch ein Kampf der Geschichten sein, vor aller Augen, auf der Bühne des Welttheaters.

Philipp Blom, 1970 in Hamburg geboren, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Er lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien und schreibt regelmäßig für europäische und amerikanische Zeitschriften und Zeitungen. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Stipendium am Getty Research Institute in Los Angeles, der Premis Internacionals Terenci Moix und der deutsche Sachbuchpreis. Zuletzt erschienen bei Hanser: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914 (2009), Die zerrissenen Jahre. 1918-1938 (2014), Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart (2017), Was auf dem Spiel steht (2017) und Eine italienische Reise. Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute (2018). Im Paul Zsolnay Verlag erschien der Roman Bei Sturm am Meer (2016). Weitere Informationen unter www.philipp-blom.eu.

Textauszug
In einem längst verschwundenen Theater

Ich kannte den Bruder meiner Großmutter nur aus Geschichten, denn er war lange vor meiner Geburt gestorben, noch bevor die Nazis gekommen waren. Er war verunglückt, als dreizehnjähriger Junge (wie mir immer wieder warnend eingeschärft wurde), als er sich mit seinem Fahrrad an einem fahrenden Lastwagen festgehalten hatte, an einem aus ihm ragenden Balken. Man hat mir nie erklären können, was genau passiert war, ob der Lkw gebremst oder er einfach die Kontrolle über sein Rad verloren hatte. Er war sofort tot gewesen.

Der so tragisch ums Leben gekommene ferne Großonkel hatte etwas hinterlassen, was ihn mir als Kind sehr nahe brachte. Er war ein begabter Zeichner gewesen und hatte eine bewegliche Szenerie aus kunstvoll ausgeschnittenem und bemaltem Papier gebaut, mit den verschiedensten Figuren und fünf auswechselbaren Landschaftsprospekten, auf denen große Horizonte, Prärien und ein Gebirge angedeutet waren, davor zerklüftete Felsen und Büsche, die sich wie Kulissen verschieben ließen, Bäume und Blockhütten und eine Büffelherde. Dies war der Wilde Westen, wie ihn sich ein Kind um 1930 vorgestellt hatte, und die Figuren auf ihren Pferden, die wie der Wind über die Ebene galoppierten, waren schwer bewaffnete Cowboys und Indianer mit fliegendem, schwarzem Haar.

Und gleich verband mich etwas mit diesem vor Jahrzehnten gestorbenen Kind, denn zwei Generationen später las auch ich die Romane von Karl May, dem verurteilten Hochstapler und unermüdlichen Romanschreiber der Gründerzeit, der seinen ganzen Wilden Westen in symphonischem Technicolor erfunden hatte, obwohl er selbst niemals in den USA gewesen war, und der seine Abenteuer vor einer großen Leserschaft ausbreitete.

Wie viele Jungen seiner Generation war auch mein ferner Onkel ein Verehrer dieser imaginären Welt gewesen und hatte die Luft der Freiheit um seine Nase gespürt, die durch diese Geschichten wehte. Mit seinem kleinen Theater hatte er dieser Sehnsucht einen Altar gebaut. Nur selten durfte ich mit seinem Wunderwerk spielen, das wie eine Reliquie aufbewahrt wurde. Nur nach heftigem Bitten und Betteln durfte ich sie mir ansehen und aufstellen, vorsichtig, damit es nicht einriss, immer unter der ängstlichen Aufsicht von Erwachsenen.

Was einer Generation kostbar war, wurde von der nächsten auf den Müll geworfen. Das kleine Theater mit seinen prächtigen Kulissen ist längst verrottet in irgendeiner Mülldeponie im Norden Deutschlands. Ich kann es nicht mehr aufbauen, es ist ein Theater meiner Erinnerung. Ich sehe die Felsen noch vor mir, zerklüftet in schwarzer Tinte gezeichnet und dann in verschiedenen Schattierungen von Grau und Braun mit Wasserfarben koloriert, ausgeschnitten und präzise auf einen Ständer aus Pappe geklebt, ebenso die Hütten und Büsche, die Büffelherde und die Cowboys um sie herum, die Indianer mit ihren Wigwams und Lagerfeuern und Pferden, die an zwei Stangen einen Schlitten hinter sich herziehen.

In meiner Erinnerung sind die Landschaften des Papiertheaters so erhaben wie die Fotos von Ansel Adams, auch wenn der junge Zeichner wohl andere Quellen der Inspiration hatte. Er konnte vielleicht Fotos in Illustrierten oder in Bildbänden ausfindig machen, Landschaften in Westernfilmen im Kino, die allerdings selbst schon Kulisse waren, professionell gescoutet und abfotografiert oder überhaupt gemalt. Die Landschaft seiner Kindheit, das flache Land um Hamburg herum, wird ihm kaum Ideen dafür gegeben haben.

Für mich als Kind der 1970er Jahre war die Idee von Abenteuer nicht so sehr mit dem Wilden Westen verbunden, sondern mit Asterix und Obelix, mit Astrid Lindgren und mit den Fernsehserien, die ich bei meinen Cousins in den Niederlanden sah, The Incredible Hulk und The Persuaders, alles Eindrücke, die mein ferner Onkel noch nicht gekannt hatte. Aber er hätte sie verstanden, weil seine und meine Geschichten gem



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet