Melanie RaabeDIE WAHRHEIT

E-Book (EPUB)

btb (2016)

464 Seiten

ISBN 978-3-641-18525-1

EPUB sofort downloaden
Downloads sind nur für Kunden mit Rechnungsadresse in Österreich möglich!

Kurztext / Annotation
Vor sieben Jahren ist der reiche und zurückgezogen lebende Geschäftsmann Philipp Petersen während einer Südamerikareise spurlos verschwunden. Seither zieht seine Frau Sarah (37) den gemeinsamen Sohn alleine groß. Doch dann erhält Sarah wie aus heiterem Himmel die Nachricht, dass Philipp am Leben ist. Die Rückkehr des vermeintlichen Entführungsopfers löst ein gewaltiges Medieninteresse aus. Sarah hat zwiespältige Gefühle, nach all der Zeit verständlich. Sie hat eine harte Zeit hinter sich. Gerade war sie dabei, sich von der Vergangenheit zu lösen. Ihr Ehemann taucht, wenn man so will, zur Unzeit auf. Was wird werden? Gibt es eine gemeinsame Zukunft? Sie ist auf alles vorbereitet, nur auf das eine nicht: Der Mann, der aus dem Flugzeug steigt, ist nicht der, als der er sich ausgibt. Es ist nicht ihr Ehemann. Es ist ein Fremder - und er droht Sarah: Wenn sie ihn jetzt bloßstelle, werde sie alles verlieren: ihren Mann, ihr Kind, ihr ganzes scheinbar so perfektes Leben ...

MELANIE RAABE wurde 1981 in Jena geboren. Nach dem Studium arbeitete sie tagsüber als Journalistin - und schrieb nachts heimlich Bücher. 2015 erschien DIE FALLE, 2016 folgte DIE WAHRHEIT, 2018 dann DER SCHATTEN und 2019 DIE WÄLDER. Ihre Romane wurden in 22 Sprachen übersetzt, mehrere Verfilmungen sind in Arbeit. Melanie Raabe betreibt zudem gemeinsam mit der Künstlerin Laura Kampf einen erfolgreichen wöchentlichen Podcast rund um das Thema Kreativität, 'Raabe & Kampf'. Melanie Raabe lebt und arbeitet in Köln. Mit »Die Kunst des Verschwindens« verließ sie erstmals das Gebiet des traditionellen Thrillers und entführt uns in eine Welt, in der alles möglich und nichts selbstverständlich ist.

Textauszug

Sommer 2008

Der Moment unmittelbar davor, dachte er, der Augenblick, in dem man schon weiß, dass es geschehen wird, in dem es aber noch nicht geschieht. Der ist alles.

Es wirkte wie eine dieser fließenden Bewegungen, deren scheinbare Mühelosigkeit Ballerinas erst nach Jahren der Übung erreichen - und gleichzeitig vollkommen spontan. Als folgten sie einer geheimen Verabredung, die keiner Sprache bedurfte, begannen sie, ihre Köpfe zu drehen, er seinen blonden in die eine, sie ihren dunklen Lockenkopf in die andere Richtung. Dann trafen sich ihre Lippen.

Es war ein allererster Kuss, das sah er sofort. Die Aufregung, die zwischen den beiden vibrierte, war mit Händen zu greifen.

Er wird sich wundern, wie weich ihre Lippen sind, dachte Philipp, während er dem jungen Pärchen, das ihm schräg gegenübersaß, aus den Augenwinkeln zuschaute. Jedes Mal, wenn man eine Frau zum ersten Mal küsst, wundert man sich, wie weich ihre Lippen sind. Egal, wie viele Frauen man schon geküsst hat, es erstaunt einen jedes Mal aufs Neue.

Die beiden waren ganz alleine auf der Welt, um sie herum gab es keinen Boardingbereich voller Menschen, von denen neugierige Blicke ausgingen, kein Terminal und keinen Flughafen, kein Hamburg, kein Land, keine Welt - nur sie beide, Wärme, Feuchtigkeit, Atem, Lippen. Perfektion, Schwerelosigkeit.

Natürlich waren das nur biochemische Prozesse, die da abliefen, im Grunde überprüften die beiden lediglich instinktiv durch den Austausch von Speichel, wie kompatibel ihre Gene waren, mehr war nicht dran am Küssen, alles andere ist Esoterik, Schall und Rauch, dachte Philipp und wandte endlich den Blick ab. Augenblicklich wurden die Flughafengeräusche um ihn herum wieder lauter, als hätte jemand schlagartig die Lautstärke hochgedreht. Die leisen Gespräche, die Durchsagen, klappernde Absätze, Handyklingeln und Gelächter drangen wieder ungefiltert an seine Ohren. Philipp erhob sich von seinem Sitz im Wartebereich am Gate und tat ein paar Schritte.

Heute ist mein elftausendachthundertundfünfundsiebzigster Tag auf Erden, dachte er. Elftausendachthundertundfünfundsiebzig Mal wach werden. Die Augen aufschlagen, immer die eine Frage im Hinterkopf: Was für ein Tag wird das heute? Dann den kompletten Tag durchleben und wieder schlafen gehen. Elftausendachthundertundfünfundsiebzig Mal daliegen und träumen.

Seit ein Jugendfreund von ihm einst statt seinem Geburtstag seinen elftausendeinhundertundelften Tag auf Erden gefeiert hatte, rechnete Philipp ab und zu nach.

Er sah den Flugzeugen beim Starten und Landen zu und überlegte, wo er stand. Es war ihm schon immer wichtig gewesen, Bilanz zu ziehen.

Ich hatte eine halbwegs glückliche Kindheit, dachte er. Ich habe meine Teenagerjahre ohne größere Katastrophen überstanden. Ich war sieben Mal verliebt, bevor ich meine Ehefrau traf. Ich habe BWL studiert. Meinen Vater begraben. Ich habe geheiratet, ich habe einen Sohn gezeugt. Ich leite ein großes Unternehmen, und ich mache das gut.

Ein erfülltes Leben.

Aber das ist noch nicht alles, dachte er. Ich habe noch etwas anderes getan.

Philipp fuhr sich mit der Hand durchs Haar, sehnte sich ganz plötzlich nach einer Zigarette, obwohl er seit Jahren nicht geraucht hatte.

Er kaufte eine Packung und gesellte sich zu den anderen stummen Gestalten in der Raucherlounge.

Der Abschied von Sarah wollte ihm nicht aus dem Kopf.

Er hatte es ihr wieder nicht gesagt. Hatte seinen Kaffee getrunken und dem Kind zugesehen, das mit Sarahs Hilfe durch die Küche tapste, auf seinen speckigen Beinen, die älteren Damen für gewöhnlich spitze Schreie des Entzückens entlockten. Hatte ihm zugeschaut, wie es beinahe über den Rand des cremefarbenen Teppichs gestolpert war, sich fing, weiter voranstrebte. Kurz war Philipp der Gedanke gekommen, was für ein Wunder es doch war, eine Frau und ein gesundes Kind zu haben, und dass er Dankbarkeit empfinden sollte, doch



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet