Luise RistMORGENLAND

E-Book (EPUB)

cbt (2018)

ab 14 Jahre

ISBN 978-3-641-19719-3

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Kurztext / Annotation
Flucht in ein neues Leben
Die junge Deutsche Frida reist nach Serbien, um dort Flüchtlinge an der Grenze zu Ungarn zu unterstützen. Dort begegnet sie dem Afghanen Ali. Die beiden verlieben sich, und Frida schließt sich ihm und einer Gruppe jugendlicher Flüchtlinge an. Bei einer nächtlichen Fluchtaktion werden sie erwischt und in ein Auffanglager gebracht. Als sie von dort ausbrechen, gelingt ihnen schließlich mithilfe eines Unbekannten die Flucht nach Deutschland. Doch Ali fällt es schwer, sich einzuleben, und ihre Liebe wird auf eine harte Probe gestellt ...

Luise Rist, geboren 1970, war nach ihrem Studium in Heidelberg und Berlin Dramaturgin am Deutschen Theater Göttingen, wo erste eigene Theaterstücke entstanden. Sie schrieb für Stadt- und Staatstheater und in den letzten Jahren insbesondere für ihr gemeinsam mit einer Regisseurin gegründetes und aus Schauspielern, Tänzern und Musikern bestehendes Freies Theater boat people projekt. Zu dem internationalen Team gehören auch Jugendliche ohne Bühnen-, aber mit Fluchterfahrung, u.a. aus dem Kosovo, Bosnien und Serbien, mit denen Luise Rist eigene Stücke inszeniert. Nach Rosenwinkel erscheint mit Morgenland - Die Geschichte einer Liebe auf der Flucht jetzt ihr zweiter Roman.

Textauszug

4

Viele Treppen und kleine Gassen führen abwärts. Schließlich lande ich auf der mehrspurigen Straße, von der aus man zum Busbahnhof gelangt. Der Platz der Flüchtlinge ist wieder oder immer noch voller frierender Menschen. Einige haben sich eine Decke umgehängt. Ich halte Ausschau nach Carine oder nach anderen Leuten von Crossing Borders, aber keiner, den ich frage, hat von der Organisation gehört. Eine Frau verteilt Brötchen an Geflüchtete, aber auf meine Frage hin erfahre ich, dass sie von niemandem beauftragt wurde.

»Die Leute haben Hunger«, sagt sie.

Auf dem Fabrikgelände, das ich als Nächstes ansteuere, stehen Baumaschinen, Bagger, Verladefahrzeuge. Ich kann keine Bauarbeiter entdecken, aber vielleicht machen sie ja Pause. Oder haben noch gar nicht angefangen. Was soll hier überhaupt entstehen? Vermutlich wird diese Waterfront alles abreißen und neu bauen. Ein Kinderschuh liegt im Dreck. Ich gehe an den Hallen entlang, gespenstische Ruhe herrscht auf dem Areal. Gestrüpp wächst überall, dornige Büsche überwuchern eiserne Schwellen, die einmal irgendwohin geführt haben müssen. Andauernd drehe ich mich um, erschrecke vor dem eigenen Schatten. Wenn man hier überfallen wird, hört einen keiner.

Der Wind verfängt sich im Gebüsch, braunes Laub raschelt. Eine Decke hängt über einer Astgabel. Leere Wasserflaschen liegen überall herum. Voda.

Ich komme zu der Stelle, an der ich den Jungen mit dem Rollstuhl zuletzt gesehen habe. Wäsche hängt an einem Baum. Hier scheint jemand zu campieren. Auf dem Weg, der zum Fluss führt, sind Leute zu sehen. Frauen tragen eine Matratze, Kinder laufen erst ihnen, und als sie mich entdecken, mir nach; die Gesichter so offen wie die Hände, die sich mir entgegenstrecken und denen ich mein Kleingeld anvertraue. Sie rennen und hüpfen neben mir her, zeigen mir ein großes verwittertes Anwesen, das etwas abseits des Ufers auf einer Anhöhe liegt. GLORIA steht in geschwungenen Lettern über dem Eingang, die Schrift ist verblasst, aber noch gut lesbar. Das O ist ein Gesicht mit großen blauen Augen und langen schwarzen Haaren. Das A verläuft in einer Schleife. Das Gloria könnte ein Kino gewesen sein. Die Kinder nehmen mich an der Hand und ziehen mich näher zum Haus. Sie scheinen hier zu wohnen. Von Nahem gesehen ist das Gloria eine Ruine. Das Dach ist teilweise eingestürzt, tausend Ziegel liegen kaputt auf dem Boden. Müllsäcke stinken. Eine Frau schöpft Wasser aus einer Wanne. Die Kinder wollen, dass ich mit ihnen hineingehe, aber ich möchte nicht sehen, wer da wie lebt.

Bärtige Männer stehen auf einmal auf der Treppe und beobachten mich schweigend, als ich betont gleichmütig weitergehe. Ich will kein Aufsehen erregen. Ich beiße mir auf die Lippen, und ich atme ganz flach, aber ihre Blicke sind verschlossen, wie ich aus den Augenwinkeln feststellen kann. Eine große Verunsicherung steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

Nach ein paar Schritten drehe ich mich noch einmal zu dem Haus um, das ich gerne fotografieren würde. Stattdessen präge ich es mir genau ein. Ich fühle mich beobachtet. Doch die Männer von eben sind nicht mehr zu sehen. Oben steht dagegen jemand hinter einer zersplitterten Fensterscheibe. Ein Junge oder ein Mann, die Arme vor der Brust verschränkt. Er guckt in meine Richtung. In meiner Fantasie ist er ein Regisseur, der gerade einen Film dreht. Seine Augen folgen mir, auch wenn ich mich nicht mehr umsehe, von seinem Fenster bis zum Wasser.

Ich weiß nicht, wie lange ich stehen bleibe, Holzstückchen in den Fluss werfe und ihnen nachgucke, wie sie stromabwärts treiben.

Ein Stück oberhalb des Ufers komme ich auf eine schmale Straße, das Pflaster voller Schlaglöcher, in denen sich Matsch und Pfützenwasser gesammelt hat.

Ein verrosteter VW Bus ohne Räder, mit offe



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Luise Rist, geboren 1970, schreibt bislang vor allem Theaterstücke, in den letzten Jahren hauptsächlich für das von ihr mitbegründete Göttinger Theaterlabel boat people projekt, das Theaterproduktionen, Performances, Minidramen und Workshop-Programme mit jugendlichen Flüchtlingen, Schauspielern und Musikern entwickelt. Luise Rist unterrichtet Szenisches Schreiben an Akademien und Schulen, und gibt Theaterseminare, gemeinsam u.a. mit jungen Roma, deren Familien aus dem Kosovo oder Bosnien stammen.