Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert
Taschenbuch
Goldmann, Wilhelm, Verlag GmbH (2020)
496 Seiten; SW-Abb.; 207 mm x 135 mm
ISBN 978-3-442-71887-0
Sofort verfügbar oder abholbereit
Besprechung
»Es geht um vermeintlich banale Dinge, die jedoch Frauen auf der ganzen Welt benachteiligen: etwa das Fehlen von sicheren Herden in Küchen, der mangelnde Zugang zu Toiletten, die Temperatur in Büroräumen, die Erprobung von Medikamenten vorwiegend an Männern. Das Buch von Caroline Criado-Perez enthält viele Daten und ist gleichwohl ein Pageturner.« Aus der Jurybegründung zum NDR Kultur Sachbuchpreis 2020
Langtext
Ein kraftvolles und provokantes Plädoyer für Veränderung!
Unsere Welt ist von Männern für Männer gemacht und tendiert dazu, die Hälfte der Bevölkerung zu ignorieren. Caroline Criado-Perez erklärt, wie dieses System funktioniert. Sie legt die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten offen. Die so entstandene Wissenslücke liegt der kontinuierlichen und systematischen Diskriminierung von Frauen zugrunde und erzeugt eine unsichtbare Verzerrung, die sich stark auf das Leben von Frauen auswirkt. Kraftvoll und provokant plädiert Criado-Perez für einen Wandel dieses Systems und lässt uns die Welt mit neuen Augen sehen.
Unbedingt lesen!
In diesem Buch geht es um die „Kleinigkeiten“, auf die vergessen wird und diese reichen dann weit in den Alltag von Frauen. Die Autorin macht klar, dass auf Frauen nicht immer absichtlich „vergessen“ wird, sondern, wie der Titel dieses Buches schon sagt, sie sind UNSICHTBAR und werden daher nicht mitgedacht und sind auch nicht mitgemeint – sie sind eine Randerscheinung, fast eine Anomalie der männlichen Norm.
Besonders spannend fand ich, dass aufgrund von Stereotypen, Klischees, Zuschreibungen, der kaum vorhandenen Datenlage sich auch mit Algorithmen und Künstlicher Intelligenz nichts ändern wird, denn auch diese werden überwiegend von Männern programmiert.
Ich fand das Buch faktenreich und sehr informativ und habe mit großem Staunen gelesen, wo Verbesserungen stattfinden könnten, wenn schon bei der Datenerhebung an Frauen gedacht werden würde, dafür werden hier unzählige Beispiele angeführt.
Unbedingt lesen!
Sachlicher Zugang zu einem emotionalen Thema
Frauen stellen die Mehrheit der Einwohnerschaft der meisten Länder und werden dennoch nicht wahrgenommen. Warum? Diesem Phänomen geht sie in sechs Themenbereichen nach. Diese sind:
Alltagsleben
Arbeitsplatz
Design
Medizin
öffentliches Leben
Katastrophen
Anhand von zahlreichen Bespielen erklärt sie, dass so manche Fehlplanung einfach dadurch passiert, weil die Auftraggeber (meist männlich dominierte Regierungen) die betroffenen Frauen nicht fragen. So wurden nach Naturkatastrophen wie nach dem Tsunami oder dem Hurrikan Katrina schnell Häuser errichtet, doch, weil Männer selten kochen und die Frauen nicht gefragt wurden, hat man diese Häuser ohne Küchen errichtet.
Arbeits- und Schutzbekleidung wird ohne Anpassung an die weibliche Anatomie hergestellt. Man produziert sie einfach nur ein paar Nummer kleiner. Frauen sind aber keine kleinen Männer! Dass bei unpassender Schutzkleidung für Polizistinnen oder Soldatinnen die Schutzfunktion verloren geht, bedenkt hier niemand. Allerdings, welchen Aufstand würde es geben, wenn Hosen produziert würden, die Männer an ihren intimen Stellen zwicken und zwacken würden?
Auch manche gesellschaftspolitischen Traditionen gehen zu Lasten der Frauen: Weil sich die (muslimischen) Frauen eher in den Häusern aufgehalten haben, sind in Sri Lanka während des Tsunami viermal mehr Frauen gestorben als Männer. Sie konnten sich nicht mehr in Sicherheit bringen, weil sie einerseits die Warnung nicht hörten (keine Radio) und zweitens weil es ihnen häufig verbieten ist, ohne männliche Begleitung in die Öffentlichkeit zu treten.
Auch auf medizinischer Ebene geraten Frauen ins Hintertreffen. So gibt es erst seit Kurzem Lehrstühle für „Gender Medicine“, in denen die unterschiedlichen Wirkungsweisen der Medikamente aauf Frauen untersucht werden. Frauen haben ein weitaus höheres Risiko an einem Herzinfarkt zu sterben als Männer. Einfach deswegen, weil die Symptome anders sind und deshalb nicht als Herzinfarkt erkannt werden.
Für Studien an Frauen werden nicht so leicht Forschungsgelder locker gemacht als für Studien an Männern, obwohl der Markt riesig wäre.
Meine Meinung:
Die Autorin schreibt sachlich und streut auch immer wieder ein paar humorvolle Kommentare ein. Das Buch ist leicht zu lesen und nicht von (unnötiger) Fachsprache überladen.
Die Autorin verzichtet auf den vorwurfsvollen Ton mancher Feministinnen. Manche Dinge sind eben leider seit langem Tradition, die nur langsam aufgebrochen werden kann. Manches ist unbewusst und ohne böse Absicht. Allerdings ließen sich doch einige Dinge leicht ändern: So könnten in Schulbüchern die Stereotypen verändert werden. Statt ausschließlich männliche Wissenschaftler wie Einstein & Co. zu nennen, wäre es an der Zeit weibliche Wissenschaftlerinnen wie Renée Schröder etc. vor den Vorhang zu bitten.
Das Buch ist penibel recherchiert. Manches, was bis lang nur ein „dumpfes Gefühl“ war, hat die Autorin durch Hard Facts und Zahlen untermauert.
Sehr gut gefällt mir, dass die Autorin nicht jammert, dass die Gleichberechtigung noch nicht in allen Bereichen des Lebens angekommen ist. Stattdessen macht sie ganz konkrete Vorschläge, wie es besser gemacht werden kann. Man braucht „nur“ die Frauen fragen, ihren Antworten zuhören und entsprechend handeln. Ich bin von ganzem Herzen überzeugt, dass sich z.B. der Wohnbau nicht verteuert, wenn man die Küche als zentralen Raum plant, anstatt sie an das Ende der Wohnung verbannt.
Man kann es nicht oft genug sagen und schreiben: Nutzt die weibliche Perspektive, nutzt die Ideen der größeren Hälfte der Bevölkerung!
Fazit:
Die sachliche Darstellung ohne Polemik, dazu zahlreiche Beispiele, die gut zum besseren Verständnis beitragen, lassen mich diesem Buch 5 Sterne und eine Leseempfehlung geben.