Jan-Philipp SendkerDas Gedächtnis des Herzens

E-Book (EPUB)

Karl Blessing Verlag (2019)

336 Seiten

ISBN 978-3-641-24883-3

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Kurztext / Annotation
Der zwölfjährige Ko Bo Bo lebt bei seinem Onkel U Ba in Kalaw, einem Ort in Burma. Er ist ein Kind mit einer ungewöhnlichen Gabe: Bo Bo kann die Gefühle der Menschen in ihren Augen lesen. Sein Vater kommt ihn einmal im Jahr besuchen, an seine Mutter kann er sich kaum erinnern.

Dann erzählt ihm U Ba von einer großen Liebe, die im Wirbel politischer Ereignisse zu zerbrechen droht, von der Tapferkeit des Herzens und einer geheimnisvollen Krankheit seiner Mutter. Bo Bo beschließt sich auf die Suche nach seinen Eltern zu machen. Er ist überzeugt, dass er seine Mutter heilen kann.

Jan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asienkorrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung Risse in der Großen Mauer. Nach dem Roman-Bestseller Das Herzenhören (2002) folgten Das Flüstern der Schatten (2007), Drachenspiele (2009), Herzenstimmen (2012), Am anderen Ende der Nacht (2016), Das Geheimnis des alten Mönches (2017), Das Gedächtnis des Herzens (2019) und Die Rebellin und der Dieb (2021). Seine Romane sind in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Mit weltweit über 3 Millionen verkauften Büchern ist er einer der aktuell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.



Textauszug

2

Die Hühner waren hungrig. Sie liefen unruhig zwischen meinen Beinen herum, sobald ich ihnen eine Handvoll Futter zuwarf, stürzten sie sich gackernd drauf, als hätten sie seit Tagen nichts gefressen. Zwei Hennen stritten gierig um ein paar Körner, ich machte einige Schritte auf sie zu und scheuchte sie auseinander.

Hungrige Tiere sind mir unheimlich. Selbst Hühner.

Während ich sie fütterte, versuchte ich, nicht an meine Mutter zu denken, aber meine Gedanken gehorchten mir nicht.

Alle Kinder, die ich kannte, hatten Mütter, mit denen sie zusammenlebten. Fast alle. Die Eltern von Ma Shin Moe waren im vergangenen Jahr bei einem Busunglück ums Leben gekommen. Die Mama von Ko Myat arbeitete in Thailand. Sie kam ihn aber jedes Jahr besuchen. Oder jedes zweite.

Als ich länger nachdachte, fielen mir noch Ma San Yee und Maung Tin Oo ein, Zwillinge, deren Mutter bei ihrer Geburt gestorben war. Ihr Vater hatte eine neue Frau, und sie hatten damit immerhin eine Stiefmutter. Die war zwar nicht sonderlich nett zu ihnen, aber sie war da.

Von meiner Mama wusste ich nur, dass sie in Yangon lebte und dass es ihr nicht gut ging. Aber ich wusste nicht, warum es ihr nicht gut ging oder was genau ihr fehlte.

Ich wusste nicht, worüber sie sich freute oder was ihr Kummer bereitete. Ob sie lieber Reis aß wie ich oder lieber Nudeln wie ihr Bruder.

Ich wusste nicht, ob sie gut schlief oder ob sie vielleicht nachts aufwachte und, wie U Ba, nach mir rief und ich nicht für sie da war.

Ich wusste nicht, wie sie roch. Wie ihre Stimme klang. Wie ähnlich ich ihr sah.

Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, wann ich sie das letzte Mal gesehen hatte.

Früher besaß U Ba ein Foto von ihr, er benutzte es als Lesezeichen. Darauf waren meine Mutter, mein Onkel und ich zu sehen. Wir standen auf einer verschneiten Veranda, alle dick eingepackt mit Mützen und Handschuhen. Meine Mutter hielt mich im Arm. Ich war in eine Decke gewickelt und noch sehr klein, ein Baby. Wir schauten alle sehr ernst in die Kamera.

Dann vergaß er das Buch im Hof, und ein heftiger Regenschauer weichte die Seiten auf und das Bild gleich mit. Seitdem ist meine Mutter ein besonders schöner zerflossener bunter Fleck zwischen zerflossenen bunten Flecken.

Um mich abzulenken, begann ich, laut zu zählen. Das ist eine Angewohnheit von mir. Wenn ich an etwas nicht denken will, zähle ich einfach, und wenn mich etwas besonders bedrängt oder bedroht, zähle ich Dinge. Die Früchte eines Avocadobaumes zum Beispiel. Die Blüten eines Hibiskusbusches. Die Speichen meines Fahrrads. Oder einfach Treppenstufen.

Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht-neun-zehn-elf-zwölf-dreizehn-...

Die Gedanken machten mit mir trotzdem, was sie wollten.

Meine Mutter ging mir nicht aus dem Kopf.

Ich lief an den Hühnern vorbei in die hinterste Ecke unseres Hofes und hockte ich mich vor den Ameisenhaufen.

Er war schon wieder größer geworden und reichte mir fast bis zur Hüfte. Zwei schwarze Pfade, auf denen bestimmt Tausende von Tieren krochen, führten unter den Bougainvilleabüschen entlang zum Papayabaum, dahinter machten sie aus mir nicht erklärlichen Gründen einen scharfen Bogen und verschwanden hinter der Hecke im Dickicht des Nachbargrundstücks.

Ich mochte es, Ameisen zu beobachten. An ihnen konnte ich sehen, dass Stärke nichts mit Größe zu tun hatte. Sie schleppten Blätter, Nadeln, Borkestückchen, die viel schwerer wogen als sie selbst.

Legte ich ihnen Stöcke oder Steine in den Weg, hielten sie kurz an, ertasteten sie mit ihren winzigen Beinchen und Fühlern und liefen dann entweder darüber hinweg, darunter hindurch oder daran vorbei, egal wie groß oder breit die Hindernisse waren. Es waren Tiere, die ein Ziel hatten, die sich auf dem Weg dorthin nicht aus der Ruhe bringen und von nichts beirren ließen.

Das beruhigte mich.

Außerdem zeigten sie



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