Kapka KassabovaAm See

E-Book (EPUB)

Paul Zsolnay Verlag; Granta (2021)

416 Seiten

ISBN 978-3-552-07245-9

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Kurztext / Annotation
Kapka Kassabova folgt am Ohridsee den Spuren ihrer Familie. Wie in 'Die letzte Grenze' reist sie in ihrem neuen Buch auf den Weg in den Osten und in ihre eigene Vergangenheit.
Fischer, Hausierer, Witwen, Waisen - Opfer, Täter und jene, denen es gelungen ist, sich aus den Verstrickungen zu befreien. Wie in einem Brennglas werden die Konflikte und Tragödien von Nationalstaaten in jenem Winkel Europas sichtbar, in den uns Kapka Kassabova führt: das zwischen Nordmazedonien, Albanien und Griechenland aufgeteilte Gebiet um den Ohrid- und Prespasee. Es ist verbunden mit ihrer eigenen Familiengeschichte, und so wird aus der Erkundung einer wunderschönen Gegend, ihrer Historie und politischen Verwerfungen eine Reise in die eigene Vergangenheit. Kassabova versteht es, die Zusammenhänge zwischen Topografie und Biografie bloßzulegen und Menschen zum Erzählen zu bringen, deren Schicksale die Zerrissenheit der Jahrhunderte spiegeln.

Kapka Kassabova wurde 1973 in Sofia geboren und lebt heute in den schottischen Highlands. Sie schreibt unter anderen für The Sunday Times, The Guardian und Vogue. Für Die letzte Grenze (Zsolnay 2018) wurde sie mit dem Nayef Al-Rodhan Prize der British Academy ausgezeichnet.

Textauszug
Einleitung

Dieses Buch erzählt von zwei uralten Seen. Manche Orte sind in unsere DNA eingeschrieben, benötigen aber eine lange Zeit, um ihre Konturen zu enthüllen, so wie manche Reisen in die Landschaft unserer Biographie eingeätzt sind, doch die Spanne eines Lebens benötigen, um vollendet zu werden. So geht es mir mit diesen Seen.

Der Ohridsee hat mich seit meiner frühen Kindheit angezogen, denn meine Großmutter mütterlicherseits stammte von dort, und sie war in den Anfangsjahren meines Lebens eine einflussreiche Gestalt. Als Erwachsene dachte ich oft daran, einmal wirklich an den See zurückzukehren, spürte aber, dass ich nicht dazu bereit war. Will man zu den Orten seiner Ahnen gehen, muss man gewappnet sein, das zu sehen, was zu verleugnen leichter fällt.

Den Anstoß gab mir schließlich die Befürchtung, dass im Laufe der Zeit auf heimtückische Weise etwas geschehen könnte. Dass ich, falls ich nicht die existenzielle Landschaft meiner Familie auf Mutters Seite verstand, alte Muster wiederholen könnte. Dass wir, während wir in diesem Jahrhundert immer noch Zeugen sind von Bürger- und Bruderkriegen, von spalterischer Politik zwischen und in den Nationen, von patriarchaler Autokratie und Revisionismus, massenhafter Emigration und Vertreibung - dass auch wir beim Miterleben, falls wir nicht begreifen, wie wir unsere eigenen Vermächtnisse tragen, selbst unwillentlich Erfüllungsgehilfen der Zerstörung werden könnten.

Generationen meiner Vorfahren haben am See gelebt. Ich hatte gehofft, sie könnten als Pforte zu ihm und zu diesem erstaunlich unbekannten Winkel Europas dienen. Die Gegend um den See birgt epische Landschaften und eine reiche Geschichte. Es ist ein Reich der Höhen und der hypnotischen Tiefen, der Adler und der Weinberge, Obstgärten und alten Zivilisationen, ein Land, dem unerzählte Geschichten eintätowiert sind. Einige Jahre zuvor hatte ich den äußersten Südosten Europas bereist, um die Geschichten der Menschen in der dreifachen Grenzzone zwischen Bulgarien, der Türkei und Griechenland zu erkunden. Die Seen liegen im Südwesten der Balkanhalbinsel, und auch an ihnen haben drei Staaten Anteil.

Die Zwillingsseen von Ohrid und Prespa sind wie Diamanten in die Gebirgsfalten des westlichen Mazedonien und östlichen Albanien eingebettet. Sie liegen relativ nahe an der Adria und der Ägäis, aber woher auch immer man sich ihnen nähert, sie fühlen sich nicht nahe zu irgendetwas an, nicht einmal zueinander. Es heißt abschreckende Gebirgsketten überwinden und auf einsamen Straßen unterwegs sein. Hier verlief die strategisch angelegte römische Via Egnatia von Dyrrachium (Durrës) an der Adria nach Konstantinopel am Bosporus. Später wurden orthodoxe Einsiedeleien und Kirchen in die Kalkfelsen gehauen, noch später existierten hier islamische Karawansereien und Derwischklöster. Dank der Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Christus angelegten Via Egnatia, die die römische Welt verbinden sollte und nahezu zwanzig Jahrhunderte in Gebrauch stand, wurde die Seenregion für eine Weile - in den Worten des Historikers Alain Ducellier - »das Nervenzentrum des Balkans«.

Die Via formte die Geschichte, wurde aber auch selbst von der Geographie geformt. Sie folgte dem Tal des Shkumbin zwischen den großen Bergen Illyriens, führte vorbei an den Zwillingsseen, schlängelte sich zwischen Gebirgsketten hindurch, entlang derer heute die Grenze zwischen (Nord-)Mazedonien und Griechenland verläuft, bevor sie hinunterführte in die Ebenen Pelagoniens; dann erreichte sie die Ägäis und verlief parallel zur Küste weiter bis zum Bosporus.

Die Seen werden von Quellen gespeist, sind von Quellen umgeben und durch unterirdische Flüsse miteinander verbunden. Sie liegen an der Verbindungsstelle zweier, mancherorts dreier Staaten - Griechenland knabbert am Südende des Prespasees und schluckt beinahe vollständig den an seinem unte



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