Rafik SchamiDer ehrliche Lügner

E-Book (EPUB)

Beltz (2016)

544 Seiten; ab 14 Jahre

ISBN 978-3-407-74787-7

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Kurztext / Annotation
Sadik, der Geschichtenerzähler, braucht 1001 Lügen, um der Wahrheit näher zu kommen. Was war, was geschieht, was sein wird, wer weiß es? In den Erinnerungen von Sadik, dem Geschichtenerzähler, mischen sich seine Geschichten mit dem Leben der alten Stadt Morgana. Mit dem Schicksal von 93 Onkeln und Tanten und anderen Bewohnern des Viertels. Sadik erinnert sich an Onkel Gibral, der nie ein Wort sagte. An den Circus India, der mit seinen Tieren eines Tages nach Morgana kam. Und an seine Liebe zu Mala, der Seiltänzerin, die ihn zum Erzähler machte. In bester orientalischer Erzähltradition entführt uns Rafik Schami in eine sagenhafte Stadt und lässt trubelige Straßen, bunte Basare und den Geruch der Gewürze lebendig werden.

Rafik Schami, geboren 1946 in Damaskus, siedelte 1971 in die Bundesrepublik Deutschland über. Er promovierte in Chemie. Seit 1982 ist er freier Schriftsteller und lebt in Marnheim/Pfalz. Für sein literarisches Werk erhielt er viele wichtige Auszeichnungen, u.a. den Adalbert-von-Chamisso-Preis, den Hermann-Hesse-Preis und den Großen Preis der Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Seine Werke, darunter die Romane »Eine Hand voller Sterne«, »Erzähler der Nacht« und »Der ehrliche Lügner«, wurden vielfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Textauszug

1

Die Ankunft oder Der Anfang aller Dinge

Ich heiße Sadik, aber nicht einmal das ist sicher. Denn bereits das erste Wort, das ich sprach, war gelogen. Ich war damals nicht einmal sechs Monate alt. An jenem Tag kam mein Vater von der Arbeit und beachtete mich nicht. Das ärgerte mich. Stunden später bückte er sich zu mir herunter. Ich dachte mit geschlossenen Augen über meine Zukunft nach. Mein Vater merkte nichts davon und fragte mich laut, ob ich noch lebe. Ich kochte vor Wut, und da ich wusste, dass mein Vater nichts mehr hasste, als mit meiner Mutter verwechselt zu werden, streckte ich ihm meine Ärmchen entgegen und nannte ihn »Mama«. Das war meine erste Lüge und sie wirkte.

»Aus deinem Sohn wird nichts!«, sagte er zornig zu meiner Mutter. Er irrte sich gewaltig. In meinem langen Leben habe ich viel gesehen und erlebt, Ruhm und Wissen erworben, Elend und Qualen durchlitten. Und wenn wieder einmal der Todesengel kommt und mich fragt, ob ich bereit sei, dann werde ich diesmal, anders als in der Vergangenheit, Ja sagen, weil ich in einem einzigen Aufenthalt auf der Erde ein so erfülltes Leben genossen habe, dass es für zehn Menschen reicht. Aber ich werde bestimmt nicht sterben, bevor ich meine Geschichte erzählt habe. Und meine Geschichte geht erst zu Ende, wenn ich in ein paar Tagen Mala noch einmal getroffen habe.

Nun bin ich sehr alt geworden, aber wie alt, weiß ich nicht. Ich will es auch nicht wissen. Ich werde alt und jung je nach Tages- und Jahreszeit.

Und doch, sooft ich sage, dass ich in meinem langen Leben nun genug wundersame Dinge erlebt habe, belehrt mich dieses Leben selbst immer aufs Neue, dass die wundersamsten Dinge noch nicht geschehen sind.

Vor einer Woche hörte ich, dass ein Circus aus Indien in unserer Stadt angekommen sei. In mir wurden alte Erinnerungen wach, und ich beschloss, diesen Circus zu besuchen, doch drei Tage lang war ich verhindert, wegen der Voruntersuchungen für eine Operation an meinem rechten Auge. Erst vorgestern machte ich mich auf den Weg zum Circus und ärgerte mich, als ich erfuhr, dass die Vorstellung schon ausverkauft war. Erst nach langem Verhandeln bekam ich noch einen Platz, ungünstig in der hintersten Reihe.

Der Circus war nicht schlecht. Die Raubtiernummer war etwas zu hastig, doch die Pferdedressur ließ sich wie ein Traum von edlen Pferden genießen, und die Zuschauer waren, wie in Arabien üblich, allesamt Pferdeliebhaber. Sie spendeten der Nummer begeisterten Beifall.

Plötzlich erstarrte mir das Blut in den Adern. Ich sah die Seiltänzerin und hätte im ersten Augenblick schwören können, dass sie niemand anderes war als Mala. Doch dann befielen mich Zweifel und nagten an meiner Sicherheit.

Aber gewiss, sie war es, und mit jedem Schritt, den sie oben auf dem Seil tat, wurde ich wieder sicherer. Doch, doch, sie war es. Mala hätte ich nie verwechseln können. Wie auch? Ich habe sie damals wahnsinnig geliebt. Aber sie war über zehn Jahre älter als ich, und diese Frau auf dem Seil war zu jung, höchstens fünfundfünfzig. Aber wer weiß, es gibt Menschen, die der Zeit trotzen und ab einem bestimmten Jahr nicht mehr altern. Oder hatte Mala damals geschwindelt mit ihrem Alter?

Diese Artistin führte ihre Nummer leichtfüßig und anmutig wie eine Gazelle vor. Lächelnd überspielte sie die Angst auf dem Hochseil - genau wie vor vierzig Jahren. Sie war es. Niemand ging so wie Mala. Auch ihre alte Nummer mit dem Rückwärtssalto riss das Publikum zu einem Beifallssturm hin, der genau wie damals nicht enden wollte.

Als sie herunterkletterte, verbeugte sie sich, strahlte die Zuschauer an, und einen Augenblick lang dachte ich, sie hätte mich gesehen und angelächelt, doch sicher war ich mir nicht. Und wo war das große Muttermal an ihrem Hals geblieben? Es hatte die Form eines Schmetterlings gehabt, und Mala hatte mir erzählt, dass dieser Schmetterling sie dreimal vor einem Sturz bewahrt hatte. Wir lach



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