Annie ErnauxDie Scham

E-Book (EPUB)

Suhrkamp Verlag (2020)

110 Seiten

ISBN 978-3-518-76717-7

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Kurztext / Annotation

Nobelpreis für Literatur 2022

Juni 1952, die kleine Annie ist 12 Jahre alt. Eines Sonntagnachmittags geschieht etwas Entsetzliches - ohnmächtig muss sie miterleben, wie der Vater die Mutter umzubringen versucht. Nach kurzer Zeit beruhigt sich der Vater, und Annie versucht, den Eklat zu vergessen. Bis sie, nahezu ein halbes Jahrhundert später, auf ein altes Foto stößt, das eine Flut von Erinnerungen auslöst. Aber was genau ist damals geschehen? Und wie ist es dazu gekommen?

Je tiefer Annie in dieses entscheidende Jahr eintaucht, umso deutlicher wird ihr die Spannung, in der die Eltern lebten, zwischen dem Wunsch nach sozialem Aufstieg und dem demütigenden Rückfall in die alten Verhältnisse. Und auch Annies Zerrissenheit gewinnt an Kontur, ihr immer wieder schmerzhaftes Bemühen, dem Einfluss einer religiösen Erziehung zu entrinnen und der bohrenden Sehnsucht nach Aufbruch und einem besseren Leben zu folgen.

Scham ist das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. Annie Ernaux seziert es an sich selbst, indem sie weit zurückschwingt in eine eigentlich unfassbare Episode ihrer Kindheit und in eine Vergangenheit, die nicht vergehen will.



Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur.

Textauszug

 
 
 
 
 
 

Im Juni 52 habe ich die Gegend, die vage, aber für alle verständlich bei uns genannt wird, das Pays de Caux, die Region nördlich der Seine zwischen Le Havre und Rouen, noch nie verlassen. Jenseits davon beginnt die Ungewissheit, der Rest Frankreichs und der Welt, unterschiedslos mit da draußen bezeichnet, begleitet von einer Geste zum Horizont, die ebenso Gleichgültigkeit ausdrückt wie die Tatsache, dass man sich nicht vorstellen kann, dort zu leben. Anders als mit einer Gruppenreise nach Paris zu fahren, scheint unmöglich, es sei denn, man hat Familie dort, die einen herumführen kann. Die Metro zu nehmen, wirkt wie eine komplexe Angelegenheit, beängstigender als eine Fahrt mit der Geisterbahn auf dem Jahrmarkt, wie etwas sehr Schwieriges, was man erst aufwendig lernen muss. Verbreiteter Glaube, dass man nur dort hinfahren kann, wo man sich auskennt, tiefe Bewunderung für alle, die keine Angst haben, überall hinzugehen.

 

Die beiden großen Städte bei uns, Le Havre und Rouen, sind weniger angsteinflößend, sie gehören zum Wortschatz des Familiengedächtnisses, sind Gegenstand von Alltagsgesprächen. Viele Arbeiter fahren morgens mit der Micheline, dem Schienenbus, hin und abends zurück. In Rouen, näher und wichtiger als Le Havre, gibt es alles, Kaufhäuser, Spezialisten für jede Krankheit, mehrere Kinos, ein Hallenbad zum Schwimmenlernen, den Jahrmarkt Saint-Romain, der den ganzen November dauert, Straßenbahnen, Teestuben und große Krankenhäuser, in die man für komplizierte Operationen, Entziehungskuren und Elektroschocktherapien eingeliefert wird. Niemand außer den im Wiederaufbau tätigen Arbeitern geht in Alltagskleidung in die Stadt. Meine Mutter fährt einmal im Jahr mit mir hin, für einen Termin beim Augenarzt und den Kauf einer Brille. Sie nutzt die Gelegenheit, um Kosmetikartikel zu kaufen und alles, »was man in Y. nicht kriegt«. Wir fühlen uns dort nicht wirklich heimisch, weil wir niemanden kennen. Die Leute wirken besser angezogen und scheinen sich besser auszudrücken. In Rouen kommen wir uns rückständig vor, weniger fortschrittlich, weniger intelligent, nicht so selbstbewusst im Gestikulieren und Sprechen. Rouen repräsentiert für mich die Zukunft, genau wie Fortsetzungsromane und Modezeitschriften.

1952 kann ich mich nicht außerhalb von Y. denken. Außerhalb seiner Straßen, seiner Geschäfte, seiner Menschen, für die ich Annie D. bin oder die kleine D. Es gibt für mich keine andere Welt. In allen Gesprächen geht es um Y., man positioniert sich und begehrt in Bezug auf seine beiden Schulen, seine Kirche, seine Modegeschäfte, seine Feste. Diese Stadt mit ihren siebentausend Einwohnern zwischen Le Havre und Rouen ist der einzige Ort, wo wir von den meisten Leuten sagen können, »er oder sie wohnt in der und der Straße, hat soundso viele Kinder, arbeitet da und da«, der einzige Ort, wo wir die Zeiten der Gottesdienste und des Cinéma Leroy kennen, die beste Bäckerei und den ehrlichsten Metzger. Da meine Eltern hier und ihre Eltern und Großeltern in den umliegenden Dörfern geboren sind, gibt es keine andere Stadt, über die wir so viel wissen, zeitlich wie räumlich. Ich weiß, wer vor fünfzig Jahren im Nachbarhaus gewohnt hat und wo meine Mutter auf dem Rückweg von der Volksschule das Baguette kaufte. Ich begegne Männern und Frauen, die meine Mutter oder mein Vater, bevor sie sich kennenlernten, fast geheiratet hätten. Nicht von hier sind alle, über die wir nichts wissen, deren Geschichte unbekannt oder nicht überprüfbar ist und die unsere Geschichte nicht kennen. Bretonen, Marseiller oder Spanier, alle, die nicht wie wir sprechen, sind Fremde, in unterschiedlichen Abstufungen.

(Die Stadt zu benennen - wie ich es an anderer Stelle getan habe - ist mir unmöglic



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