Anja Melzer; Fabian ReicherDie Wütenden

E-Book (EPUB)

Westend Verlag (2022)

240 Seiten

ISBN 978-3-86489-859-4

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Kurztext / Annotation

'Ich weiß, dass es falsch ist, aber ich muss immer noch an den Dschihad denken'

Warum radikalisieren sich Jugendliche, die in Österreich, Deutschland oder Frankreich aufwachsen? Was muss passieren, um weitere dschihadistische Anschläge zu verhindern? Fabian Reicher und Anja Melzer geben authentische Einblicke in die Wirkungsweise der Propaganda des sogenannten Islamischen Staates und ihre Anziehungskraft auf europäische Jugendliche. Anhand von fünf Biografien radikalisierter Jugendlicher beschreiben sie, wie es gelingt, mit Kenntnis der Vorgehensweisen und den richtigen Methoden beim Ausstieg aus der vermeintlich attraktiven Jugendsubkultur zu helfen.



Anja Melzer, geb. 1989, arbeitet als Chefin vom Dienst beim Arbeit&Wirtschaft Magazin in Wien. Sie wurde 2017 zu den 'Besten 30 unter 30' gezählt und 2018 mit der 'Story des Jahres' der österreichischen Journalismustage ausgezeichnet. Ihre Arbeit steht in der Tradition der sogenannten Wiener Sozialreportage, einem 'Journalismus von unten'. Die Devise: Hingehen, wo es weh tut, hinsehen, wo niemand hinschaut, denen eine Stimme geben, die keiner hört. Außerdem arbeitete sie als Journalistin für österreichische und deutsche Tages- und Wochenzeitungen sowie als Gerichtsreporterin. Seit Winter 2020 ist sie als kommentierende Gerichtsreporterin in mehreren Staffeln des RTL-Formats 'Anwälte der Toten' zu sehen. Studium der Kriminologie (M.A., ohne Abschluss), Kunstgeschichte (B.A.) und Publizistik (Bakk. phil.). Sie twittert unter @mauerfallkind.

Textauszug
PROLOG: Die Nacht

Montag, der 02.11.2020, mitten in Wien. Die letzten Monate waren schwer genug, doch das Schlimmste in diesem wahnsinnigen Corona-Jahr 2020 sollte den Bewohner:innen dieser Stadt erst noch bevorstehen. Dieser Montagabend war insofern auch besonders, da nur noch wenige Stunden der Freiheit übrig waren, bevor ab Mitternacht wieder Ausgangsbeschränkungen im ganzen Land gelten und alle Geschäfte, Lokale und Restaurants schließen sollten.

Es war ein ungewöhnlich lauer Abend, auch darum waren die Außenbereiche sämtlicher Kneipen (in Wien nennen wir sie »Beisln«) bis auf den letzten Platz gefüllt. Laute Stimmen, gelöstes Lachen, das gefährliche Virus schien für einen Moment fast vergessen. Weltuntergangsstimmung auf Wienerisch, irgendwo zwischen Hektik und Ausgelassenheit, Zynismus und Grant - noch ahnte niemand, was in dieser Nacht über Wien hereinbrechen sollte.

Ich war der Letzte im Büro. Direkt unter meinem Fenster fließt der Donaukanal und teilt die Stadt. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich der Schwedenplatz und das sogenannte Bermudadreieck mit den vielen kleinen Bars und Nachtlokalen. Dahinter baut sich der erste Bezirk auf, das Zentrum von Macht, Reichtum und Erfolg. Auch wenn die Wiener Innenstadt keine Skyline hat - wer es »geschafft hat«, lebt und arbeitet hier. Doch auch wenn mein Büro in Sichtweite dieses Glanzes liegt - meine Arbeit führte mich in den vergangenen Jahren immer hinaus an die Ränder der Stadt, in die sogenannten »Brennpunktbezirke«. Und wenn ich ehrlich bin: Dort fühle ich mich auch wohler.

Es wurde gerade dunkel, nur meine Schreibtischlampe leuchtete noch hell. Kurz nach 20 Uhr ertönte plötzlich eine Polizeisirene, dann noch eine, und dann ganz viele auf einmal. Eine Lautsprecherdurchsage folgte, aber ich konnte das Gesagte nicht verstehen. Wenige Augenblicke später war mein gesamtes Büro in Blaulicht getaucht.

Ich blickte aus dem Fenster. Dort drüben am anderen Ufer standen überall Polizeiautos. Das hier ist etwas Großes, dachte ich mir sofort. Hastig nahm ich mein Handy, öffnete im Browser »oe24.at« - Österreich, die wohl schlimmste aller österreichischen Boulevardzeitungen. Im Vergleich dazu könnte die deutsche BILD beinahe als Qualitätsmedium durchgehen. Doch genau deshalb hat die Zeitung meist auch die allerschnellsten Schlagzeilen. Und da war sie auch schon: »Schüsse am Schwedenplatz«. Und direkt darunter: »Terroranschlag«.

Ein Terroranschlag? Hier in Wien, direkt gegenüber? Das wird alles verändern, schoss es mir durch den Kopf. Das, womit ich mich die letzten zehn Jahre meines Berufslebens intensiv beschäftigt hatte, spielte sich gerade vor meinem Fenster ab. Der erste dschihadistische Anschlag in Wien.

Meine Gedanken überschlugen sich. Panik kroch in mir hoch. »Hoffentlich war es keiner von meinen Jungs«, dachte ich und zuckte fast in der gleichen Sekunde innerlich zusammen. Durfte ich so etwas überhaupt denken, meinen Schützlingen derart misstrauen? Ich musste. Im Kopf ging ich alle meine Fälle durch ... hatte ich eventuell irgendwas übersehen? Nein, das war doch unmöglich ... Oder?

Ich bin Jugendsozialarbeiter im Bereich der Extremismusprävention, der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit. Ich arbeite mit Jugendlichen, die extremistische Positionen und Vorstellungen in ihr Weltbild übernommen haben. »Die auf den ersten Blick einfachste Betrachtungsweise der Deradikalisierung ist die als Umkehrung des Prozesses, durch den eine Person zum Extremisten wurde.«1 So beschreibt der deutsche Politikwissenschaftler und Terrorismusforscher Peter Neumann den Prozess der Deradikalisierung.

Aber was heißt das eigentlich? Und wie soll das gehen, kann man Jugendliche überhaupt deradikalisieren?

Es gibt zahlreiche Antworten auf diese Fragen, aber auch viele Mis



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