Ernst StrouhalVier Schwestern

E-Book (EPUB)

Paul Zsolnay Verlag (2022)

416 Seiten

ISBN 978-3-552-07332-6

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Kurztext / Annotation
Mit Verbindungen zu Karl Kraus und Elias Canetti: Ernst Strouhal erzählt eine große Wiener Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts.
Gerda, Friedl, Ilse und Susanne waren die Töchter von 'Benedikt-Sohn' und Enkelinnen von Moriz Benedikt, dem berühmten Herausgeber der mächtigen 'Neuen Freien Presse', gegen die Karl Kraus heftig polemisierte. In unmittelbarer Nachbarschaft der Benedikts lebte Elias Canetti, dessen Blicken die Töchter nicht entgingen und von denen er sich in den Salon einladen ließ. Der 'Anschluss' machte dem privilegierten Dasein ein Ende, den vier Schwestern aber gelang die Flucht. Verstreut in alle Himmelsrichtungen, blieben sie einander über Emigration, Krieg, Nachkrieg hinweg verbunden.
Ernst Strouhal erzählt von einem Stück unwiederbringlicher Kultur und gibt damit seiner eigenen Mutter und seinen drei Tanten eine Stimme.

Ernst Strouhal, geboren 1957, ist Professor an der Universität für angewandte Kunst Wien, Autor und Publizist. Er erhielt 2010 den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik und arbeitete bei Ausstellungen mit, u. a. Ein Lied der Vernunft (Jüdisches Museum der Stadt Wien 1996), Spiele der Stadt (Wien Museum 2011). Zuletzt erschienen Die Welt im Spiel. Atlas der spielbaren Landkarten (2015), Böse Briefe. Zur Geschichte des Drohens und Erpressens (gem. mit Christoph Winder, 2017) und Gespräch mit einem Esel. Vom Lesen mit dem Daumen (2019).

Textauszug

1

Himmel fünfundfünfzig

Das letzte Foto, das die vier Schwestern gemeinsam zeigt, stammt aus den späten 1920er Jahren. Sie sind noch Kinder. Die Familie Benedikt ist im Wiener Atelier von Hermann Clemens Kosel um einen Tisch versammelt. Das Bild ist geschickt arrangiert, alle Personen sind miteinander verbunden. Die jüngste Tochter Susanne sitzt auf dem Schoß der Mutter Irma, die rechte Hand von Friedl liegt auf der Schulter der Mutter, neben ihr stehend Gerda, sie berührt sanft den Arm ihres Vaters Ernst. Der lächelt zufrieden, seine Hand greift wie zufällig nach der Hasenfigur auf dem Tisch, daneben steht ein kleiner Hahn; Tochter Ilse sitzt entspannt ganz rechts auf der Stuhllehne, den Arm auf der Schulter des Vaters. Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch, um das die ganze Familie gruppiert ist.

Das Bild der adrett gekleideten Familie und der großbürgerlichen Idylle täuscht. Die Neue Freie Presse, die der Vater als Herausgeber und Chefredakteur leitete, steckte in der tiefsten Krise ihres Bestehens, und betrachtet man den skeptischen Blick der beiden älteren Töchter Friedl und Gerda und das etwas bemühte Lächeln der Mutter, lässt sich erahnen, dass das Zusammenleben in der Familie nicht so harmonisch war, wie es uns das Bild weismachen will. Susanne, die Jüngste, erinnerte sich an täglichen Streit, an den Vater, der wütend vom gemeinsamen Essen aufsprang und für Stunden in seiner Bibliothek verschwand, an Szenen der Eifersucht, an Zank zwischen den Schwestern, an Schläge und wilde Raufereien.

Und dennoch: Blättert man in den Briefen, die sich die Schwestern über fünf Jahrzehnte aus der Fremde in die Fremde geschrieben haben, ist vom ersten bis zum letzten von Sehnsucht die Rede. Sehnsucht nach den »gemeinsamen Mittag- und Abendessen«, nach den Zeichnungen, die der Vater für die Kinder anfertigte, nach dem Kuchen der Frau Langbein, nach den Klaviersonaten, die am Flügel im großen Salon gespielt wurden. In London träume sie, schreibt Friedl 1941 an Ilse nach Zürich, von daheim, und zwar »unheimlich viel« vom Haus und vom Garten.

Gegen Ende der 1990er Jahre verfasst Susanne eine Reihe langer Briefe mit Erinnerungen über ihre Kindheit für ihre Tochter in Paris und ihren Neffen in New York; an die Tochter schreibt sie auf Deutsch, an ihren Neffen auf Englisch. Sie erzählt vom Garten, von den Korridoren, in denen gespielt wurde, vom Zimmer der Mutter, vom geliebten Kindermädchen (»Bambi«), von ihrer Angst und vom Glück ihrer Kindheit, das sie ein Leben lang begleitet hat. Die Erinnerung an das »Viermäderlhaus« verbindet die Schwestern miteinander. Nachdem sich die Schwestern 1938 auf der Flucht vor den Nazis trennen mussten, werden die Briefe das Medium seiner Beschwörung und seiner Rettung in der Erinnerung.

Susi, Irma, Friedl, Gerda, Ernst und Ilse Benedikt, um 1927

Ohne Hitler wäre das »Viermäderlhaus« (zum Unterschied von Schuberts »Dreimäderlhaus«) bestimmt und wahrscheinlich tragisch explodiert: Unsere unterschiedlichen Rivalitäten, Eifersüchteleien und Aggressivitäten waren tiefgehend und gross. Jede wollte die anderen wegzaubern können, um die Einzige, die Geliebteste, die Schönste, die Gescheiteste zu sein.

Aber dank unserer Familien-Diaspora - die Gerdl in New York, die Friedl in London, die Ilse in Zürich und die Eltern und ich in Stockholm - wurden wir wieder eine Familie. In den armseligen Resten eines nie sehr regen Briefwechsels mit den Schwestern lesen sich früher nie geäusserte Sorgen um mich und meine Zukunft. Grobe Grinzinger Schimpfwörter, wie »verfluchte Drecksau« oder »blöde Gans« verwandelten sich in Schmeicheleien und nostalgisch-vertraute Liebesbeteuerungen.

Nach dem Krieg, also nach sechs, sieben Jahren von sehr verschiedenen Erfahrungen, die jede von uns schwesternlos durchstehen musste, war das Wiedersehen ein langersehntes Wunder,



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