Anne FreytagDas Gegenteil von Hasen

E-Book (EPUB)

Heyne Verlag (2020)

416 Seiten; ab 14 Jahre

ISBN 978-3-641-25623-4

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Kurztext / Annotation
Sie sind in derselben Jahrgangsstufe und trotzdem in verschiedenen Welten. Julia, Marlene und Leonard im Zentrum der Aufmerksamkeit, der Rest irgendwo in ihrer Umlaufbahn. Dann geschieht etwas, das alles verändert: Eines Morgens macht plötzlich eine Internetseite die Runde, die bis dato auf privat gestellt war. Darauf zu finden sind Julias ungefilterte Gedanken, Bomben in Wortform, die sich in kürzester Zeit viral verbreiten. Es sind Einträge, die ein ganz anderes Bild des beliebten Mädchens zeigen, das alle zu kennen glauben.

Wer hinter der Aktion steckt, ist zunächst unklar, doch nach und nach kommt heraus: Gründe dafür hätten einige.

Anne Freytag hat International Management studiert und als Grafikdesignerin gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Für ihre ersten beiden Jugendbücher wurde sie für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, für ihren dritten Roman »Nicht weg und nicht da« für den Buxtehuder Bullen 2018. Außerdem erhielt sie dafür den Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur. Zuletzt bei Heyne fliegt erschienen: »Das Gegenteil von Hasen«. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.



Textauszug

14:32 Uhr

Die Wohnung ist dunkel, als Julia ankommt. Zweieinhalb leere Zimmer und ein Zettel auf dem Küchentisch. Das »J« in der oberen rechten Ecke heißt, dass er für sie bestimmt ist. Sie greift danach und liest: Joghurt, Quark, Brot, Eier, Aufschnitt. Das Wort Aufschnitt hat ihre Mutter doppelt unterstrichen, weil Julia dazu neigt, ihn zu vergessen. Sie und ihre Mutter wissen beide, dass es Absicht ist. Dass Julia sich dagegen wehrt, tote Tiere einzukaufen. Doch ihre Geschwister mögen die nun mal gern, auch wenn sie gar nicht wissen, was sie da essen.

Julia steht da und starrt auf den Zettel. Und der Moment scheint ihr seltsam absurd. Als wäre ihr Leben ein Wagen, der mit rasender Geschwindigkeit auf einen Abgrund zurast, und sie soll zum Lidl gehen. Separatorenfleisch kaufen, das sich ihre kleinen Geschwister dann in Scheiben auf ihre Brote legen können. Zusammengeklebten Abfall, für den ihre Mutter auch noch Geld bezahlt. Es ist ekelerregend.

Julia verharrt ein paar Sekunden neben dem Tisch. Wie angeschossen. Nur das schnelle Ticken der Uhr füllt die Stille. Julia greift nach den zwanzig Euro, die ihre Mutter unter den Einkaufszettel gelegt hat, und steckt sie ein, dann nimmt sie eine leere Jutetasche vom Garderobenhaken im Flur. Bei seinem Anblick schluckt sie. Ihre Kehle umgibt ein Kloß aus Zorn und der Angst vor dem, was passieren könnte. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Vielleicht bleiben ihre Gedanken und Geheimnisse ja einfach bis zur Endstation auf dem blauen Buspolster liegen. Und dann findet sie der Fahrer. Ein älterer Mann, den ihre Sicht auf die Welt kein bisschen interessiert, weil er eigene Sorgen hat. Echte Sorgen. Vielleicht läuft es ja so. Oder aber Edgar liest sie, diese Gedanken, die ihr oftmals schon beim Schreiben peinlich waren. Jeder Eintrag ein Schwall aus erbrochenen Worten.

Julia hat sich oft gefragt, wie es wohl wäre, wenn man alles laut sagen würde, was man denkt. Wenn man kein Blatt vor den Mund nimmt und keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten anderer. Und in ihrer Vorstellung war das irgendwie befreiend gewesen. So, als würde man erst dann wirklich zu sich selbst stehen, wenn man seine Meinung laut ausspricht. Aber in diesem Moment wird ihr klar, dass das eigentlich Besondere an Gedanken ist, dass man sich aussuchen kann, mit wem man sie teilt - und ob man es tut. Nicht wie sein Äußeres, das jeder sehen kann, ganz einfach, weil es da ist. Ganz plump und offensichtlich, so wie ihre Brüste an ihrem Oberkörper. Diese sexuelle Ablenkung von ihrem Gesicht. Julia hat sich mit der Zeit an die Blicke gewöhnt. Und auch an die seltsame Stille, die ihnen folgt.

Als Kind hatte Julia Ballettunterricht. Da war sie noch ein zierliches Geschöpf mit filigranen Gliedmaßen und knochigen Beinen. Mit dreizehn hat sie damit aufgehört, weil ihr Körperbau nicht mehr passte. Sie wurde ganz weich und rund, etwas, das man vielleicht gern anfasst, aber sicher nicht in ein Tutu steckt. Davor war Julia einfach nur ein Mensch. Irgendwas zwischen Kind und Frau, das niemanden interessierte. Und dann veränderte Julia sich. Von außen und von innen. Auf einmal war sie voll mit einer Lust, für die sie sich auf eine besonders tiefe Art schämte. Es war, als würde sie immer weiter in ihr aufsteigen, bis sie überlief. Sie schaute heimlich Sex-Videos im Internet und löschte danach den Verlauf, damit ihr niemand auf die Schliche kommen konnte. Am liebsten mochte sie Videos, in denen Männer sich selbst befriedigten, konnte sich aber nie wirklich erklären, warum. Manchmal schrieb sie darüber. Über das, was sie dachte und tat. Weil sie so fasziniert und überfordert davon war. Von sich selbst und ihrem Körper, von seiner befremdlichen neuen Wirkung auf andere und vom monatlichen Bluten. Sie schrieb über das Einführen von Tampons und Unterleibsschmerzen. Und über Gefühlsschwankungen, die sie manchmal so plötzlich trafen wie eine Ohrfeige. Es t



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