Bettina BalàkaDie Tauben von Brünn

E-Book (EPUB)

Paul Zsolnay Verlag (2019)

192 Seiten

ISBN 978-3-552-06404-1

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Kurztext / Annotation
Ein Brieftaubenzüchter, ein Lotteriegewinn und die Geschichte eines großen Betrugs: die Geschichte des berühmt-berüchtigten Wieners Johann Karl von Sothen.
Spannend und atmosphärisch dicht erzählt: die Geschichte des berüchtigten 'Lotteriebarons' Johann Karl von Sothen. Als der Brieftaubenzüchter Wenzel Hüttler 1840 einen Lottogewinn macht, stiehlt Sothen, der im selben Haus wohnt, den Lottoschein und legt so den Grundstein für sein Vermögen. Nach Hüttlers Tod betreibt dessen Tochter die Brieftaubenzucht in Brünn weiter. Sothen fingiert Verliebtheit, und sie hilft ihm gegen ihren Willen beim Betrug der Lotterie: Wenn in Brünn die Ziehung erfolgt ist, kann man in Wien noch setzen, bis der reitende Bote mit den Gewinnzahlen eintrifft. Eine Taube ist jedoch viel schneller ... Sothen wird unermesslich reich und in den Adelsstand erhoben ? doch auch für ihn kommt der Zahltag.

Bettina Balàka, geboren 1966 in Salzburg, studierte Englisch und Italienisch und lebt nach mehreren Auslandsaufenthalten (England, USA) in Wien. Sie schreibt Romane, Lyrik, Erzählungen und Essays. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, Theaterstücke und Hörspiele. Vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Theodor-Körner-Preis (2004), dem Salzburger Lyrikpreis (2006) und dem Friedrich-Schiedel-Literaturpreis (2008). Zuletzt erschienen die Romane 'Unter Menschen'(2014), 'Die Prinzessin von Arborio' (2016), der Essay 'Kaiser, Krieger, Heldinnen. Exkursionen in die Gegenwart der Vergangenheit' (2018) und zuletzt bei Deuticke der Roman Die Tauben von Brünn (2019).

Textauszug
BERTA HÜTTLER

1850

Sie leben unter den Menschen wie Geister. Man sieht sie nicht, man geht durch sie hindurch. Kein Fuhrwerker ist ihnen je ausgewichen, kein Fußgänger hat je Halt gemacht, weil er befürchtet hätte, sie zu zertreten.

Das heißt, es gibt einen, der Rücksicht nimmt, sein Name ist Ferdl, und wenn man ihn sieht, wie er Rücksicht nimmt, dann sieht man plötzlich auch die Unsichtbaren, die Tauben.

Der Ferdl ist ein junger Bursche, vielleicht fünfzehn Jahre alt, und er verdient seinen Unterhalt mit einem Hundekarren, mit dem er Waren durch die Stadt transportiert. Der Hund heißt Zeus und ist ein großer, zotteliger Zughund mit jenem gelassenen Gemüt, das notwendig ist, wenn man einen Karren voll nagelneuer, noch unaufgeschnittener Bücher oder gar Porzellanwaren durch das Lärm- und Staubgewirr zwischen riesigen Pferdefuhrwerken ziehen muss.

Der Ferdl dirigiert Zeus mit einem Stöckchen, ohne ihn jedoch damit zu schlagen. Überhaupt hat er, wie er berichtet, bei der Erziehung des Hundes diesen niemals geschlagen, was erstaunlich ist, denn Zeus ist brav und fleißig und folgt auch auf ein geflüstertes Wort. Wenn der Ferdl seinem Hund das Stöckchen an eine bestimmte Stelle auf der linken Schulter legt, heißt das: langsamer werden. Verstärkt er den Druck, heißt das: stehen bleiben. Es ist die linke Schulter, weil der Ferdl links neben Zeus hergeht.

Während es also jedem Kutscher vollkommen egal ist, ob er in eine Gruppe von Tauben hineinfährt, behält der Ferdl jede einzelne im Blick. »Langsam, Zeus«, flüstert er, legt sein Stöckchen auf die Schulter des Hundes, während die Taube vor ihm hertänzelt, nach links und nach rechts, aber nicht sofort den Weg freigebend, weil sie den geplanten Weg des Karrens ja nicht kennt. Bleibt die Taube stehen, muss auch Zeus stehen bleiben. Geht sie weiter, hebt Zeus vorsichtig seine riesigen Pfoten und schleicht wie hinter einer kapriziösen Prinzessin her.

Dass der Ferdl sich so den Tauben gegenüber verhält, wissen nicht viele, obwohl sie es beobachten könnten. Denn auch der Ferdl ist gewissermaßen unsichtbar. Er ist im Trubel der Stadt nur ein Botenjunge, dem man Aufträge zuruft und Münzen in die schmutzige Hand wirft.

Die Tauben leben in den Zwischenräumen. Wo immer der Mensch Platz gelassen hat, setzt sich eine Taube hin, pickt, gurrt, balzt, guckt, und wenn sich Füße, Hufe oder Räder nähern, hüpft sie schnell zur Seite oder fliegt auf. Wer sieht, wie lange so eine Taube wartet, bevor sie die Flucht ergreift, wie ruhig sie sich den Gefahren der Straße aussetzt, immer bis zur letzten Sekunde ausharrend, bevor sie mit dem geringstmöglichen Kraftaufwand ausweicht, wundert sich, dass so wenig passiert. Es kommt sehr selten vor, dass eine Taube von Hufen oder Rädern erfasst wird, hier Am Hof vielleicht einmal im Jahr, und dann war diese Taube wohl schon sehr alt oder krank, sodass ihre Reflexe erlahmt waren.

Die Tauben leben aber nicht nur zwischen, sondern auch über uns. Dort auf den Dächern, Fassaden, Türmen, Simsen und Statuen haben sie ihre eigene Stadt, die wir nicht betreten können. Eigentlich könnten sie dort oben bleiben und ihre Ruhe haben, aber viele Stunden des Tages kommen sie hinunter auf die Plätze und Straßen, sie suchen unsere Nähe und vielleicht auch die Gefahr. Unten gibt es viele Gefahren: Hunde, Pferde, Menschen und Räder. Oben gibt es nur eine: den Turmfalken. Aber der Turmfalke fordert unter den Tauben mehr Opfer als alle Bierkutschen, Landauer und Kavallerieregimenter zusammen.

Die Tauben spazieren auf den Kaminen. Hoch oben auf den vornehmen Häusern und Palais sind steinerne Vasen, Adler und Wappen, gedrechselte Balkone, gemeißelte Masken, Atlasse, Karyatiden, mächtige Figuren - für die Tauben nur eine Welt der Felsklippen, ähnlich jener in Anatolien, aus der sie stammen. Aus den Dächern und Balkonbaldachinen ragen Regenrinnen mit Drachenhäuptern, aus deren Mäulern das Gewi



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