Meine geniale Freundin. Neapolitanische Saga - Bd.1
Hardcover
Suhrkamp (2016)
422 Seiten
ISBN 978-3-518-42553-4
versand- oder abholbereit innerhalb von 3 Werktagen
€ 22,70
Langtext
Lila und Elena sind im Neapel der 1950er Jahre schon als junge Mädchen beste Freundinnen und werden es über sechzig Jahre bleiben, bis die eine spurlos verschwindet und die Zurückbleibende auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das Rätsel dieses Verschwindens zu kommen. Elena Ferrante ist eine erfolgreiche und zugleich geheimnisvolle Autorin. Von ihren ersten beiden Romanen wurden in Italien jeweils mehr als 100 000 Exemplare verkauft, aber zu Gesicht bekommen hat Elena Ferrante noch niemand. Mal heißt es, sie scheue die Öffentlichkeit und habe sich auf eine griechische Insel zurückgezogen. Mal wird spekuliert, dass der Name ein Pseudonym sei. - Fest steht, dass "Meine geniale Freundin" höchstes Lesevergnügen ist.
Eine Frauenfreundschaft von Kind an
Im ersten Teil der Tetralogie beschreibt Ferrante die Kindheit und Freundschaft von Kindern in Neapel, ihre Entwicklung, ihren schulischen Werdegang.
Elena darf nach der Pflichtschule weiter aufs Gymnasium. Ihre Freundin Lila muss bei ihrem Vater in der Schusterwerkstatt mitarbeiten, bis sie Stefano kennen undlieben lernt und ihn heiratet mit nicht einmal 17 Jahren.
Wir lesen von Menschen im Rione, dem Viertel Neapels, in dem Handwerker, Cafe-Besitzer und Arbeiter wohnen und sich handgreifliche Auseinandersetzungen liefern, ums Überleben kämpfen, konkurrieren und für ihre Kinder eine bessere Zukunft wünschen.
Die Träume der jungen Mädchen haben nichts mit den Jungs zu tun, die zur Verfügung stehen und die heftig um die Gunst der heranwachsenden Mädchen buhlen.
Der Beginn einer langen Freundschaft
Sie beginnt Mitte der 50er Jahre im Rione, einem armen Viertel von Neapel. Vermögend ist dort niemand (und wenn, dann bestimmt nicht auf legalem Weg), Gewalt bestimmt den Alltag. Man verdient nicht viel, trinkt dafür umso mehr und Streitigkeiten werden mit den Fäusten ausgetragen und vererben sich von den Eltern auf die Kinder. Hier begegnen sich die freche Lila und die schüchterne Elena und sind bald unzertrennlich. Sie wetteifern darum, wer die Beste in der Schule ist, was Lila überaus leicht fällt. Doch während Elenas fleißiges Lernen mit dem Besuch einer weiterführenden Schule belohnt wird, muss Lila in der Schusterei ihres Vaters mithelfen.
Es ist eine grausame und archaische Zeit, in der die beiden Mädchen aufwachsen. Doch Lila verfügt über eine derart große Intelligenz, Wissbegier und ein immenses Selbstbewusstsein, dass sich selbst die Jungen vor ihr fürchten und manche Erwachsene eingeschüchtert sind. Elena, ebenfalls intelligent, findet in Lila ein Vorbild, dass ihr die Kraft gibt, sich anzustrengen um in der Schule voranzukommen - ein Weg, der Lila verwehrt bleibt. Während Elena eine Klasse nach der anderen besucht und sogar auf das Gymnasium kommt, wird es für Lila immer schwieriger je älter sie wird, ihre Unabhängigkeit zu bewahren.
Das Buch ist weit mehr als 'nur' die Geschichte einer Kinder- und Jugendfreundschaft. Die unter einem Pseudonym schreibende Autorin lässt ein Neapel auferstehen, das ich beim Lesen stets deutlich vor Augen hatte: die Armut, den Dreck, die heruntergekommenen Häuser und mittendrin die Menschen, die sich so gut wie möglich durchschlagen. Es ist ein Sittengemälde des Neapels der Fünfziger Jahre, das so eindrucksvoll und überzeugend geschrieben ist, dass ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch die folgenden Bände lesen werde, die in Italien bereits vor mehreren Jahren erschienen sind. Vielleicht ist es nicht ganz einfach zu lesen (jede Menge 'Personal' mit italienischen Namen - aber es gibt ein Personenverzeichnis) und nicht immer eine chronologische Erzählweise, aber die Mühe lohnt sich. Mir sind alle Figuren sehr ans Herz gewachsen und ich freue mich schon auf den Folgeband!
Sitten- und Zeitgemälde Neapels nach dem Zweiten Weltkrieg UND Bild einer lebenslangen Freundschaft
Das soll auf keinen Fall jemanden abschrecken; im Buch wirkt das alles, so seltsam sich das jetzt lesen mag, natürlich, folgerichtig: so ist halt das Leben in diesem Viertel, in dieser Zeit. Der Autorin Elena Ferrante gelingt es, ein Sittengemälde der einfacheren Leute in Neapel darzustellen anhand des Aufwachsens dieser beiden Mädchen nach dem Zweiten Weltkrieg (1980 sind sie 36 Jahre alt, also geboren 1944). Schuldbildung spielt keine wichtige Rolle für die Eltern in diesem Umfeld, besonders ein Mädchen findet mehr Anerkennung für eine "gute Partie". Lila und Elena sind gut in der Schule, besonders Elena fühlt sich durch Lila herausgefordert, die immer einen Hauch mutiger ist als sie, kompromissloser, als Charakter ungewöhnlich fokussiert. Doch Lilas Vater erlaubt nicht den Übergang seiner Tochter in die Mittelschule ? Elena hat mehr Glück, fühlt sich dabei aber immer im Nachteil gegenüber der Freundin, sieht das, was ihr widerfährt, immer nur im ? meist negativ für sie selbst ausfallenden ? Vergleich mit der anderen, die zunächst im Selbststudium weiter gegen die gesellschaftlichen Regeln aufbegehrt. Die Geschichte wird erzählt als Rückblick aus der Alterssicht Elenas: "Es war eine alte Angst, eine Angst, die mich nie verlassen hatte, die Angst, mein Leben könnte an Intensität und Gewicht verlieren, wenn ich Teile ihres [Lilas] Leben verpasste." S. 265
Entsprechend fesselte mich die Lektüre nicht nur durch die atmosphärisch dichte Darstellung von Milieu und Zeit, sondern auch durch das enge Aufeinander-Bezogen-Sein der beiden Kinder und Jugendlichen, das man ausschließlich aus der Sicht von Elena dargestellt bekommt. Ich konnte einiges von Elenas Verhalten nicht nachvollziehen, wohingegen mir gleichzeitig ihre gesamte Person komplett nachvollziehbar erschien, wie widersprüchlich auch immer das jetzt erscheinen mag ? eine meisterhafte Darstellung von Charakteren mit allen Ecken und Kanten, eine nicht immer sympathische, aber glaubwürdige Ich-Erzählerin ist mutig! Ein Problem hatte ich mit der schieren Personenfülle, wogegen zwar mit einem Verzeichnis zu Beginn des Buches und auf dem mitgelieferten Lesezeichen versucht wurde, entgegenzusteuern, was bei mir aber doch den Lesefluss etwas hemmte. Hingegen war der gelegentliche Wechsel der Autorin von gut lesbaren flüssigen Sätzen zu einigen echten verschlungenen Bandwurmsätzen nicht abträglich, sondern passte eher zum jeweiligen Gemütszustand Elenas. Ein Buch, das wiederzugeben oder auch nur weiter zu charakterisieren über ?Sitten- und Zeitgemälde? und ?Buch über eine lebenslange Freundschaft? hinaus schwer fällt, sich entzieht.
Am Ende dieses auf vier Bände angelegten ersten ins deutsche übersetzten Teils eines Romanzyklus stehen die beiden Protagonistinnen am Übergang zum Leben als Erwachsene ? mit einigen schmerzhaften Erkenntnissen. Ich ermutige, selbst herauszufinden, wer hier die ?geniale Freundin? ist, auch das Zitat am Anfang sollte nochmals nach der Lektüre in Erinnerung gerufen werden. Ich fühlte mich unterhalten, über ein Milieu informiert, zum Nachdenken angeregt ? und hätte doch ein dickeres Buch und dafür weniger Teile bevorzugt.
Ein passendes Folge- oder Alternativbuch für Deutschland ist von Ulla Hahn 2Das verborgene Wort".