Rezensionen

Das Archiv der Gefühle
Roman

Autor: Peter Stamm

Erschienen 2021 bei S. Fischer Verlag GmbH
ISBN 978-3-10-397402-7
Rezension verfassen

Zögerlicher Archivar im Schneckenhaus - 4 Sterne

Als die Sängerin Fabienne noch Franziska und ein Schulmädchen war, begann die Freundschaft (oder war es damals bereits Liebe?) zwischen ihr und dem Erzähler, dessen Namen nie genannt wird. Die beiden treffen sich nur sporadisch, ein gemeinsames Glück bleibt ihnen verwehrt. Und doch hat sie ihn so stark an sich gebunden, dass er sich auf keine andere Frau richtig einlassen konnte und auch keine Wünsche ein trautes Heim betreffend hegte.
Er sieht Gott als den großen Archivar, das Universum als ein unendliches Archiv. Als an seinem Arbeitsplatz ein sperriges Archivgestell entsorgt werden soll, erwirbt er es, obwohl in seinem Keller kaum Platz dafür ist. Hier dokumentiert er all seine Erinnerungen an Franziska, legt Listen an, eine regelrechte Akte. Ein in den Keller verbannter Liebesschatz. Eine archivierte Zögerlichkeit.
Seine eigenen Gefühle sieht er distanziert, wie durch ein schützendes Panzerglas. Mehr und mehr in sein Schneckenhaus verkrochen, wird er zum wortkargen, antriebslosen Einsiedler. Vor allem kann er sich kaum entscheiden, wenn er es sollte, egal, in welchem Zusammenhang. Sich selbst bezeichnet er durchaus treffend als „der Dabeiseiende“.
Das sehr nüchterne Coverbild zeigt eine Frau, die im Gehen begriffen ist. Eben noch da – und schon fort. So sehr ich die Sprache und den Erzählfluss in Peter Stamms Romanen mag, so sehr habe ich die Übersetzungen der französischen Textstellen vermisst. Wenigstens im Anhang wären sie kein Luxus gewesen.
Was das Lesen dieses Romans ebenfalls etwas mühsam machte, war die sparsam eingesetzte wörtliche Rede, noch dazu ohne Anführungszeichen. Auch die Fantasien oder Träume waren für mich manchmal erst im Nachhinein zu erkennen. Peter Stamm will es seinen Lesern nicht zu leicht machen. Empfohlen für alle Leser, die sich darauf einlassen wollen.
von Emmmbeee - 2021-11-06 15:55:00

Archivierte erste Liebe - 3 Sterne

Die erste Liebe vergisst man nicht? Das ist wohl das Thema des Buches. Der Protagonist dieses Romans hat für Franziska immer eine Leerstelle bewahrt. Doch beruht die Liebe auf Gegenseitigkeit? Sind es nicht eher seine Sehnsüchte, die er archiviert?

Die Erzählung beschreibt einen Mann, der sein Leben verpasst und sich verkriecht. Seine Weigerung sein Leben zu gestalten ist schwer zu verstehen. Die Frage ist ja, hat seine Sehnsucht nach Franziska Bestand, gibt es eine wirkliche Grundlage oder ist es mehr Wunsch als Wirklichkeit?
Die Erzählung lässt diese Grenze verschwimmen. Manche Situationen stellen sich im Nachhinein als nicht real heraus. Überraschend. Das kann es spannend machen, hat mich aber eher ermüdet. Der Protagonist bleibt seltsam fremd, namenlos und wenig greifbar. Auch konnte ich sein Verhalten oft schwer nachvollziehen und ertragen. Die Erzählung regt zwar zum Nachdenken an und hält nach, ist aber ansonsten eher langatmig.

Anregende aber langatmige Erzählung über mehr Wunsch als Wirklichkeit.
von Marianna T. - 2021-10-31 14:16:00

Versäumte Chancen - 3 Sterne

"Jetzt gibt es nur noch meine Geschichte, die Akte, die mein Leben ist und die mir plötzlich viel größer, viel wichtiger erscheint, wo alle anderen verschwunden sind."

Der namenlose Protagonist lebt alleine im Haus seiner Mutter. Seine Arbeit als Archivar wurde durch die Digitalisierung nicht mehr gebraucht, seitdem ist er arbeitslos. Das Archiv hat er in seinen Keller verlagert und führt es dort weiter. Sein eigenbrötlerisches Leben besteht vor allem daraus. Auf seinen Spaziergängen denkt er an Franziska - Schulfreundin und Liebe seines Lebens. Soll er ihr seine Liebe nochmals gestehen?

Das Buch ist ruhig und melancholisch geschrieben. Oft ist nicht ganz klar, was Traum und was echt ist. Der Erzähler ist sehr schüchtern und in sich gekehrt. Oft stellt er sich Dinge vor, die er sich im Leben nicht traut. Häufig gibt es auch Zeitsprünge, sodass ich es manchmal schwierig fand, alles Erzählte richtig einzuordnen. Ein interessanter Schreibstil, aber insgesamt hätte ich mir mehr Taten des Protagonisten gewünscht.
von skiaddict7 - 2021-09-19 16:19:00

Das Archiv der Gefühle - 5 Sterne

Ich kenne alle Werke von diesem Autor, und doch entführt er mich mit jedem Roman in eine mir noch unbekannte Welt der Gefühle. Der Protagonist hat sich selbst von der Welt abgeschottet und führt im Keller ein Archiv an Dokumenten und Zeitungsberichten. Nach der Digitalisierung wird er nicht mehr gebraucht und er hat sich nicht nur räumlich sondern auch emotional zurückgezogen. Teilweise kann man nicht mehr unterscheiden, welche Begegnungen mit seiner großen Liebe Franziska wirklich stattgefunden haben, oder ob er sich nur in seiner Phantasie jahrzehntelang eine Beziehung zu dieser Frau aufgebaut hat. Er erkennt aber, dass sich das eigene Leben nicht in einem Archiv aufbewahren lässt, und seine ersten Schritte auf Menschen zu macht er doch tatsächlich während der Pandemie. Mir hat diese Buch Hoffnung gegeben auf eine zweite Chance im Leben!
von Barbara Kumpitsch - 2021-09-14 10:47:00

Ein wunderlicher Mann in einem wundervollen Buch - 5 Sterne

Es ist ein wunderlicher Mann ohne Namen, die Hauptfigur in »Das Archiv der Gefühle« von Peter Stamm. Einer, der mich in sein Denken mitnimmt, der sich mir durch seine Selbstreflektion vorstellt. Er beschreibt sein Jetzt und erzählt parallel doch seine Lebensgeschichte chronologisch. Meist in Erinnerungen, manchmal allerdings auch nur in Phantasien. Außerdem ist von Beginn an Franziska dabei, in seinem Kopf, mit der er sich unterhält. Es sind die einzigen Dialoge, die er führt. Franziska, die Frau seines Lebens, die ihm einst sagte, dass sie ihn nicht liebe. Schon der Text auf dem Schutzumschlag verrät, dass Franziska wieder auftauchen wird.

Der Mann ist jenseits dessen, was unsere Gesellschaft als normal erachten würde, wenn sie sein Leben denn mitbekäme, was er zu verhindern sucht. Nicht der Gesellschaft wegen, sondern seinetwegen. Schon als Kind war er gerne alleine, mochte die Wiederholung lieber als Veränderung, stellte sich Freundschaften lieber vor statt sie zu leben. Nur Franziska war immer da.
Er ist Archivar und er ist ohne Anstellung, seit seine Stelle im Pressehaus abgebaut wurde. Ohne Arbeit ist er nicht, denn er hat das Archiv mitgenommen. Dass er ein Archiv in seinem Haus eingerichtet hat, ist die Krönung seiner Beschreibung. Jemand, der um der Ordnung willen ordnet, nicht um des Zwecks willen, denn sein Archiv wird von niemandem mehr genutzt, nicht mal von ihm selbst. Eingerichtet in seiner eigenen Welt. Im Haus seiner Eltern, das er übernahm als seine Mutter starb, und in dem er im Kinderzimmer schläft. Wie früher. Ein Mann, der möchte, dass die Zeit nicht vergeht. Der zwar hinnimmt, dass Dinge verfallen, der aber einen Verlust nicht erträgt. Auch deshalb hat er Franziska immer bei sich.

»Das Archiv der Gefühle« ist ein großartiges Buch. Der Protagonist denkt Sätze, trifft Aussagen, mit denen man sich auseinandersetzen mag. Als er sein Archiv beschreibt, seine Lust an der hierarchischen Einordnung, bemerkt er: »Wenn alles wie im Internet gleichwertig ist, hat nichts mehr einen Wert.« An einer anderen Stelle denkt er darüber nach, warum er sich nie bei Freunden meldet, auch nicht wenn diese nach ihm Fragen. Er stellt fest, dass es ihn noch nie interessiert habe, Meinungen auszutauschen, und er kommt zu dem Schluss: »Meinungen haben nichts mit Fakten zu tun, nur mit Gefühlen, und meine Gefühle gehen niemanden etwas an.« Da denkt man gerne mal drüber nach. Das Einzige, worüber man nicht nachzudenken braucht, ist das komplett nichtssagende und sich auf nichts in der Geschichte beziehende Buchcover.
von HerrWieland - 2021-08-26 11:43:00

Es ist nie zu spät oder irgendwann ist der Zug abgefahren? - 4 Sterne

Keine 200 Seiten umfasst diese Geschichte eines skurrilen Mannes, eines Archivars, der leider seinen Job verlor als Papierarchivar im Pressehaus und nun im Haus seiner verstorbenen Mutter sein eigenes Archiv pflegt. Wir sind alle Teil einer bestimmten Bubble, aber er – namenlos – lebt so ganz in seiner eigenen Welt, seiner Phantasie. Wirklich kurios! Nur eines bringt den Mann aus dem Konzept und das ist Franziska, seine Jugendliebe, die in der Zwischenzeit eine große Karriere hingelegt hatte unter dem Pseudonym Fabienne. Sie taucht wieder in seinem Leben auf und stellt alles auf den Kopf. Es geht so weit, dass er sein geliebtes Archiv, seine Traumwelt in die er sich zurückzog vom echten Leben im wahrsten Sinne auf den Müll kippt und sich öffnet.
Peter Stamms Roman ‚Das Archiv der Gefühle‘ ist leise erzählt, die Charaktere gut skizziert, kein Wort zu viel, keines zu wenig. Ein melancholischer Unterton bestimmt das Erzählen und koloriert das Geschehen in gedämpfte Farben. Sehr stimmig und überzeugend zeigt Stamm die Besinnung eines Mannes und deutet an, dass es nie zu spät ist für jeglichen Sinneswandel.
Fazit: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!
von nil_liest - 2021-08-19 21:22:00