Rezensionen

Die Kunst der Freude
Roman

Autor: Goliarda Sapienza

Erschienen 2022 bei Aufbau-Verlag
ISBN 978-3-351-03932-5
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Eine Frau bricht alle Regeln - 4 Sterne

Dieser Roman erzählt die Geschichte von Modesta, einer Frau, die 1900 in ärmlichsten Verhältnissen in Catania, Sizilien, geboren wurde. Als kleines Mädchen missbraucht, wird sie nach dem Tod von Mutter und Schwester, in einem Kloster untergebracht. Was niemand weiß: Sie hat Mutter und Schwester ermordet. Modesta ist ehrgeizig und zielstrebig. Sie scheut sich auch nicht, ihren Körper für ihre Ziele einzusetzen. Nach dem Tod der Oberin des Klosters wird sie, als deren Vermächtnis, an eine adelige Familie vermittelt. Hier gelingt es ihr, durch die Heirat mit dem Sohn der Fürstin, der im allgemeinen Sprachgebrauch nur das „Ding“ genannt wird, weil er schwerst behindert ist, ihrem geringen gesellschaftlichen Status zu entfliehen und als Fürstin ihrem Drang nach Unabhängigkeit auszuleben.

Als die Faschisten die Macht übernehmen, kommt Modesta durch ihre unkonventionelle Lebensart in Konflikt mit dem Regime und muss ins Gefängnis.

Meine Meinung:

Dieser mehr als 730 Seiten starke Roman von Goliarda Sapienza hat eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte hinter sich: Um an diesem Roman (im Original „L’arte della gioia“) weiter schreiben zu können, gibt die Schauspielerin Goliarda Sapienza (1924-1996) ihren Job auf. Sie wird letztlich 9 Jahre dafür brauchen und keinen Verlag für ihr Werk finden. Völlig mittellos bestiehlt sie 1980 eine Freundin. Es kommt zur Anzeige, Gerichtsverhandlung, Urteil und Goliarda wird für drei Monate in Rebibbia, im berüchtigten Gefängnis von Rom, inhaftiert (Siehe „Tage in Rebibbia“).

Doch zurück zu „Die Kunst der Freude“. Dieser Roman ist nicht ganz einfach zu lesen. Das liegt vor allem an der Hauptfigur Modesta, die ein ambivalenter Charakter ist. Immer wieder kommt eine deutliche sexuelle Komponente zum Tragen. Da ist zunächst das zarte Entdecken ihres eigenen Körpers der kleinen Modesta, die dann missbraucht und nach dem Mord an Mutter und Schwester in einem Kloster untergebracht wird. Auch hier, wenn auch verstohlen und unter der sprichwörtlichen Bettdecke, kommt es zu sexuellen Übergriffen - diesmal von Nonnen. Diese Jahre prägen die junge Modesta, die in der Zukunft mit Männern und Frauen kürzere oder längere Beziehungen eingeht.

Dabei ist sie nicht selten rücksichtslos und wenig zimperlich, um ihre Ziele zu erreichen. Andererseits zieht sie auf ihrem Schloss nicht nur das eigene, sondern auch fremde Kinder auf und gewährt zahlreichen Gegner der Faschisten Unterschlupf, was sie selbst ins Gefängnis bringt.

Fazit:

Die Autorin hat mit Modesta eine Frau geschaffen, die so ziemlich jede Regel bricht, um ihren Willen durch zu setzen und dabei auch über Leichen geht. Gerne gebe ich diesem Roman 4 Sterne.
von Bellis-Perennis - 2022-07-10 16:20:00

Genialer Roman, mit Längen gegen Ende - 4 Sterne

Modesta (die Bescheidene) wurde 1900 in Sizilien in ärmlichen Verhältnissen geboren Sie verbringt ihre Kindheit in einem Kloster, denn sie hat ihre Mutter und Schwester umgebracht. Keiner ist ihr jedoch draufgekommen. Durch Bildung, Fleiß, Ehrgeiz und einen weiteren Mord schafft sie es zur Fürstin zu werden, getrieben durch einen Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit.

Ein umfangreiches Werk, über eine selbstbewusste Frau, die sich nimmt was sie möchte und darauf pfeift, was ihre Umgebung davon hält. Modesta ist eine liebende, ehrgeizige, starke und mutige Frau, die wir im Roman durch die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts begleiten. Wir erleben mit ihr das Aufkommen der Faschisten unter Mussolini und ihre Liebesbeziehungen zu Frauen und Männern. Sie lebt unabhängig in ihrem Schloss, zieht dort das eigene und fremde Kinder auf und gibt Freundinnen und Freunde für kürzere oder längere Zeit Unterkunft, um mit ihr zu leben.

Wichtig erscheint mir auch die Entstehung des Romans: Goliarda Sapienza war in den 1960er Jahren Schauspielerin, bevor sie zum Schreiben kam. Neun Jahre hat sie an diesem Roman gearbeitet, ihren Beruf aufgegeben, sich sozial zurückgezogen. Sie landete aufgrund ihrer Armut und infolge eines kleinen Diebstahls im Gefängnis – diesen Aufenthalt hat sie im Tagebuch-Roman „Tage in Rebibbia“ niedergeschrieben. Die Veröffentlichung ihres Werkes konnte sie nicht erleben.

Die Kunst der Freude ist eine Geschichte, die ich sehr mochte, auch wenn sie gegen Ende hin Längen hatte – die erste Hälfte des Romans ist hingegen genial geschrieben.
von Nicole Koppandi - 2022-06-23 19:42:00