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Die Vorhersage
Roman

Autor: Nikki Erlick

Erschienen 2024 bei Heyne
ISBN 978-3-453-32323-0
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Die Vorhersage - 4 Sterne

Was wäre, wenn jeder Mensch den exakten Zeitpunkt seines Todes kennen würde?
Nikki Erlick baut die Handlung ihres Debütromans auf genau dieser Frage auf.
An einem Frühlingsmorgen sind sie plötzlich da: schlichte, kleine Holzkästchen, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Sie finden sich in jeder noch so abgelegenen Gegend, und in den Deckel jedes Kästchens ist eine einfache und zugleich rätselhafte Botschaft in der jeweiligen Muttersprache des Empfängers eingraviert. „Das Innere birgt das Maß deines Lebens.“
In jeder Box befindet sich ein einzelner Faden, hübsch verpackt in einem dünnen, silberweißen Stoff, so dass auch diejenigen, die den Deckel geöffnet haben, noch eine Art Bedenkzeit erhalten.
Zunächst können nur Vermutungen angestellt werden, was die Echtheit der Fäden angeht und vor allem, was die jeweilige Länge für den einzelnen Mensch tatsächlich bedeutet. Nach der ersten Welle, in der alle Erwachsenen ab dem Alter von zweiundzwanzig Jahren ihr Exemplar bekommen haben, bringt jeder neue Sonnenaufgang eine Box und einen Faden für genau die Menschen, die an diesem Tag ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag feiern. Relativ schnell werden mit Hilfe von zigtausend ausgewerteten Fäden immer genauere Berechnungen zur jeweiligen noch verbleibenden Lebensdauer möglich; und bald lässt sich der Todeszeitpunkt eines jeden Menschen auf die Stunde genau vorhersagen.
Die sogenannten Kurzfaden müssen schon bald feststellen, dass sie in vielen Bereichen des Lebens benachteiligt bzw. diskriminiert werden; so stellen zum Beispiel viele Firmen Menschen mit kurzer Lebenserwartung gar nicht mehr ein, teilweise werden sie in Krankenhäusern nicht mehr behandelt. „Dürfen“ sie überhaupt noch eine Beziehung mit einem „Langfaden“ eingehen? Eine Familie gründen?
Auf den ersten Blick scheint es für diejenigen, die wissen, dass ihnen ein langes Leben beschert wird, leicht(er) zu sein, aber ihnen stellt sich z.B. die umgekehrte Frage: Möchte ich eine Beziehung mit einem „Kurzfaden“ eingehen bzw. kann und will ich an einer bestehenden Beziehung zu einem Menschen, dessen Ende absehbar ist, festhalten.

Was richten die Fäden in der Gesellschaft in Hinblick auf Solidarität und Moral an?
Ist ein Faden -- egal welcher Länge -- eine Art Freibrief, nur noch das zu tun, was man möchte?
Kann das Wissen um das genaue Ende des eigenen Lebens eine Chance sein, weil sich die Möglichkeit des Abschiednehmens bietet? Weil man vielleicht keine letzten gesagten oder ungesagten Worte bereuen muss?

Niki Erlick verpackt all diese Fragen in eine episodenhafte Geschichte rund um acht Frauen und Männer und lässt dann -- das Wortspiel muss erlaubt sein, auch wenn es eigentlich doof ist -- alle Fäden zusammenlaufen in einem Ende, das mir persönlich etwas zu kitschig war.
Da die Herkunft der Fäden nicht aufgelöst wird, hätte es in meinen Augen diesen weichgespülten Schluss nicht gebraucht.
Ein spannendes Gedankenexperiment ist "Die Vorhersage" aber auf jeden Fall.
von Maxie Bantleon - 2024-04-10 09:55:21