Rezensionen

Hotel Silence
Roman | Das einfühlsame Porträt eines Mannes, der weit reisen muss, um sich selbst zu finden

Autor: Auður Ava Ólafsdóttir

Erschienen 2023 bei Insel Verlag
ISBN 978-3-458-64380-7
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Die Bohrmaschine im Haus erspart den Handwerker - 5 Sterne

Jónas Ebeneser (49), hat den Boden unter seinen Füssen verloren. In tiefe Depression verfallen? Bei den drei Gudruns, die ihn umgeben kein Wunder. Die eine, seine Ex, hat einst in der gemeinsamen Schlafstatt eine Kissenwand ihm gegenüber aufgebaut, seine Mutter versinkt in Demenz und mit seiner Tochter keine Kommunikation.
Nur das Wie und das Wo sind noch unbestimmt. Er leiht sich vom Nachbarn dessen Flinte, kann aber nicht damit umgehen und hat keine Munition. Also ab in ein von Krieg zerstörtes Land mit seiner Bohrmaschine, die er dann bräuchte, um einen Hacken in der Decke zu montieren. Bereits früh wird klar, dass bei aller Tragik der Handlung eine Portion Komik beigemischt wurde.

Nicht dass es von Bedeutung wäre, in welchem Land sich Jónas wiederfindet, tippe ich auf den Balkan, nach dem massiven NATO-Bombardements. Tote, Ruinen, Stromabschaltungen, Ausgangssperre. Das Bizarre an der Situation, dass sich Jonas Mutter zeitlebens intensiv mit dem Thema Krieg beschäftigt hat.
Der Taxifahrer bringt die ersten zwei Gäste ins „Hotel Silence“, er fährt einhändig, die zweite hat er im Krieg verloren. Das Haus am Meer wird von dem Geschwistern Mai und Fifi geführt, beide hoffen auf einen touristischen Aufschwung. Kein Druck in der Dusche, roter Sand aus der Wasserleitung - für Jónas kein Problem, er repariert es. Das ist nur der Anfang. Er wird zum Synonym für Wiederaufbau und den Glauben an bessere und friedliche Zukunft.

Der zweite weibliche Gast fährt ins Hinterland, sucht für eine Reportage eine Lokation, der dritte männliche Gast stellt sich später als Kriegsprofiteur heraus.

Viel ausgiebiger beschäftigt sich Ólafsdóttir mit dem „Hotel Silence“ als Bauwerk, dem ein Thermalbad angeschlossen war und einer berühmten Mosaikwand, von der anscheinend nur Jónas etwas weiß und seinem „Manager“ Fifi. Dessen Schwester Mai, nur ein paar Jahre älter als seine Tochter, ohne Mann mit dem 6-jährigen traumatisierten Sohn Adam.
„Sehnst du dich nicht nach der Wärme eines anderen Körpers“ (Mai).

Nicht allen Leuten gefällt Jonas Aufbauarbeit, er wir überfallen und verprügelt. Doch eine Frau verarzt ihn: „Sie können Ihr Hemd wieder zuknöpfen. Schöne Blume.“ Womit wir wieder bei der Coverabbildung wären: Eine Wasserlilie, die sich Jonas vor seinem Abflug stechen ließ.

Die ausgezeichnete Übersetzung, mit den vielen Zitaten von Persönlichkeiten, die ihrem Leben ein Ende gesetzt hatten, trägt zur überragenden Qualität des Romans bei. Trotz aller Düsternis und Melancholie gewinnt mit der Kraft die Hoffnung und die Magie eines Neufangs die Oberhand.
von Manfred Fürst - 2024-03-13 21:29:00

Weiterleben - 4 Sterne

Jonas hat entschieden, seinem Leben ein Ende zu setzen. Nur das Wann und Wie sind noch nicht geklärt. Im Mai soll es passieren und eine 5 sollte auch beim Tag vorkommen, der 5. oder 15. wären gut. Doch dann wird ihm klar, dass ihn wahrscheinlich seine Tochter findet, wenn er sich zuhause umbringt. Besser fremden Menschen seine Leiche zumuten!

Kurzerhand beschließt er eine Reise zu machen. Mit wenig Gepäck und seinem Werkzeugkoffer reist er in ein kriegsgebeuteltes Land. Die Kämpfe sind vorüber, aber das Land ist noch voller Minen und der Tod lauert abseits der gängigen Wege.

Im Hotel Silence bezieht er ein Zimmer und merkt schnell, dass hier vieles einer Reparatur bedarf. Nachdem er in seinem Zimmer Dusche und Schrank gerichtet hat, bittet ihn die Hotelbesitzerin gegen Kost und Logis für ihn zu arbeiten. Sie hat das Hotel von ihrer Tante übernommen und will es gemeinsam mit ihrem Bruder wieder auf Vordermann bringen.

So kommt es, dass Jonas alle möglichen handwerklichen Tätigkeiten übernimmt und sich ganz nebenbei das Vertrauen der Stadtbewohner erarbeitet. Er kommt den Menschen näher und beginnt sich mit den Wunden und Narben auseinanderzusetzen. In diesem Land voller Leid und Tod kommen ihm seine eigenen Sorgen plötzlich wesentlich weniger tragend vor. Er setzt sich mit persönlichen und kollektiven Narben auseinander und beginnt langsam wieder einen Sinn im Leben zu finden, um sich am Ende wieder für andere öffnen zu können.

Stilistisch ist das Buch sehr ansprechend. Vieles wird nur kurz angerissen in sehr aussagekräftigen kurzen Sätzen oder starken Bildern. Nur der erste Teil des Buches hat mir nicht so gut gefallen. Jonas dreht sich in seinen Gedanken mehrmals im Kreis und die Autorin bleibt sehr wage, was seine Selbstmordabsichten betrifft. Dadurch kann man als Leser*in kaum nachvollziehen, warum er zu diesem Schluss gekommen ist.

Jonas Reise wiederum hat mich vollends überzeugt. Von welchem Land hier die Rede ist, verrät die Autorin nicht. Dadurch bekommt die Geschichte einen Hauch von Allgemeingültigkeit. Alle Kriege sind schrecklich und alle Menschen leiden darunter, egal welche Hautfarbe sie haben oder welcher Religion sie angehören. Das persönliche Leid verschwindet nicht, angesichts des kollektiven Leids, aber die Gewichtung verschiebt sich. Das hat die Autorin wunderbar eingefangen und hätte es nicht so lange Anlaufzeit gebraucht, bis mich das Buch fesseln konnte, wäre es ein Highlight geworden. So muss ich leider einen Stern abziehen.
von Miro - 2023-07-23 18:53:00

Wie geht man mit Trauer und Verlust um? - 4 Sterne


Jonas Ebeneser ist unglücklich. Seine Frau hat ihn nach Jahren der gegenseitigen Entfremdung verlassen und ihm noch die Information mit auf den Weg gegeben, dass die geliebte Tochter nicht von ihm ist. Er sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben und plant seinen Selbstmord. Sein Nachbar Svanur, von dem er sich eine Waffe ausleiht, scheint etwas zu ahnen und besucht ihn immer wieder, sozusagen zur Kontrolle. Jonas will seiner Tochter nicht den Fund seiner Leiche zumuten und bucht eine Reise. Sein Gepäck besteht aus einem Werkzeugkoffer mit Bohrmaschine ohne Kleidung zum Wechseln. Er reist in ein namenloses unsicheres, vom Krieg zerstörtes Land mit traumatisierten Überlebenden, die vor dem Nichts stehen – mit dem Hintergedanken, dass dort vielleicht ein Anderer seinem Leben ein Ende setzt. Jonas begegnen die Menschen im Dorf mit Misstrauen. Den harmlosen Touristen nimmt ihm niemand ab. Schon bald führt er im Hotel Silence einfache Reparaturen aus und hilft später auch den Frauen im Dorf bei allen möglichen Arbeiten, was einigen Männern weniger gefällt. Bald hat er sich mit den Geschwistern, die das Hotel führen, so angefreundet, dass er auch ihnen den Anblick seiner Leiche nicht mehr zumuten möchte. Jonas ist im Dorf inzwischen zu einem wahren Helden des Wiederaufbaus geworden, denn viele Männer haben den Krieg nicht überlebt. Er merkt, wie das Leid der anderen sein eigenes Unglück zunehmend relativiert und sein selbstloses Helfen ihn positiv verändert. Seinen geplanten Suizid verschiebt er immer wieder.
Die ruhig erzählte Geschichte überzeugt mit vielen Zitaten und kunst- und literaturhistorischen Anspielungen und enthält trotz der ernsten Themen von Trauer und Verlust auch komische Elemente. Jonas und die Überlebenden im Kriegsgebiet bekommen eine zweite Chance und Perspektiven für einen Neubeginn. Der angenehm zu lesende Roman hat mich gut unterhalten.
von cosmea - 2023-07-20 18:01:00