Rezensionen

Der Kaninchenstall
Roman

Autor: Tess Gunty

Erschienen 2023 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00300-0
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Tess Gunty, ein neuer Stern am Autorinnenhimmel - 5 Sterne

Mit „Kaninchenstall“ hat KiWi einen unerwarteten? Volltreffer gelandet. Und mit Tess Gunty und Sophie Zeitz, geniale Autorin und perfekte Übersetzung. Es ist schier unglaublich was der 30jährigen Gunty mit ihrem Erstlingswerk gelungen ist: „The Rabbit Hutch“ (im englischen Original), ein atemberaubender Roman.

Apartment C4, Vacca Vale, Indiana: Gunty hat kein Erbarmen mit den Lesern; (eine) Blandine Watkins liegt aufgeschlitzt am Boden. In dieser heißen Nacht verlässt Blandine ihren Körper: „Sie ist nicht alles. Nicht ganz. Sie ist nur das Gegenteil von nichts.“ Es folgen noch über 400 Seiten, auf denen wir mehr über den Hauptcharakter des Romans erfahren und „wie es dazu kam und wer sie aufgeschlitzt hat“. Vacca Vale ist eine fiktive Stadt in Indiana, ähnlich vieler Städte im Rust Belt wie South Bend, wo Gunty aufwuchs.

„Der Kaninchenstall“, im La Lapinière Affordable Housing Complex, einem abgewrackten Gebäudekomplex mit zu dünnen Wänden; jeder hört jeden, aber niemand kennt seine Mitbewohner. Joan in C2: Checkt die Nachrufe ihrer Firma RIP auf respektlose, um sie dann zu löschen. C4: Drei Teenager-Burschen - vor Kurzem aus dem staatlichen Pflegesystem entlassen -, die aus Langeweile Tiere töten und mit denen sich unsere Blandine das Apartment teilt. Wird das spannend! C6 Ida und Reggie, altes Ehepaar.

C8 Hope, die unter einer postnatalen Depression zu leiden scheint und panische Angst vor den Augen ihres Neugeborenen hat. Gibt es Hoffnung für Hope? Ehemann Anthony liebt Hope, sollte ihr Hoffnung geben.

In Teil II, von insgesamt fünf, hat mich emotional am meisten das Kapitel Variablen berührt. Tiffany Watkins, hochintelligente siebzehnjährige Schülerin der St. Philomena Highschool, Haare gebleicht, ätherischer Teint, hübsch auf eine außerirdische Art mit weit auseinanderstehenden Augen. In diesem Augenblick assoziiere ich Tiffany mit Tess Gunty – autobiographisch? Sie ist das X und der vierzigjähriger James Yager, ihr Musiklehrer und Mentor das Y. Nach „dieser Nacht“ wird Tiffany zu Blandine.

Vor 10 Monaten in „Die Flut“ liegen Hop und Anthony in einem Motel-Bett, September, Hochwasser, der Vacca Vale River hat die Innenstadt überflutet, aus dem Kaninchenstall zwangsevakuiert. „Zeig mir, was du willst“ sagt Anthony. Hochemotional zu lesen.

Gunty bearbeitet eine Fülle an Themen, die Diskrepanz zwischen Arm und Reich, Verfall und Neubeginn, Rebellion gegen das kapitalistische System, die Abgründe der digitalen Welt: „Im Internet toben sich die Raubtiere aus“ und den irrealen „Mamablogs“.

Der Roman ist ein Feuerwerk, verwirrend, aber auch beeindruckend. Wegen der wechselnden Erzählperspektiven verlangt er volle Konzentration, es ist kein Buch zum Nebenbei-Lesen. Ich habe es jedenfalls genossen, für die Rezension Teile des Buches nochmals zu lesen.
von Manfred Fürst - 2023-11-23 19:51:00

Sprachliches ein außergewöhnliches Highlight mit Schwächen im Plot - 4 Sterne

Der amerikanische Kapitalismus frisst seine Kinder.
Aber bevor es soweit ist, hält er sie noch in Kaninchenställen.

Tess Gunty hat mit „Der Kaninchenstall“ eine messerscharfe Gesellschaftsanalyse eines abgefuckten Amerikas abgeliefert.

„Ich wollte sterben, töten, vögeln, meine Eltern finden und sie wieder lebendig machen und sie dann umbringen, dann beerdigen und schreien und schreien.“

Mehr als dieses Zitat will ich zum Inhalt nicht schreiben. Gunty beschreibt verschiedenen Schicksale der Bewohner*innen des Kaninchenstalls und Menschen in Vacca Vale, einer abgehängten Kleinstadt im Herzen Indianas, mitten in Amerika. Nachdem die Autoindustrie die Menschen ausgebeutet hat, die Umwelt mit ihren krebserregenden Stoffen vergiftet hat, ist sie weitergezogen und lässt die Stadt geschändet und sterbend zurück.
Im Kaninchenstall lebt die Mittelklasse der sozial Abgehängten, sinn- und nutzlos durch den Tag treibend.

Sprachlich liefert Tess Gunty eine derartige wahnsinnige Leistung ab, dass ich mich auf den ersten Seiten wie erschlagen fühle angesichts dieser Häufung von genialen und treffenden Wort- und Satzschaffungen.
Das ist großes, großes Kino! Ich bin hart begeistert und diese Begeisterung wird mich über die eine oder andere Schwäche im Storytelling hinwegsehen lassen.
Denn so wie Gunty sprachlich für mich Neuland betritt, so bewegt sie sich in der Story auf vertrautem Territorium. Die zahlreichen Erzählstränge entwicklen sich genauso wie ich erwarte und wie ich sie schon in zahlreichen anderen Romanen genauso ablaufen gesehen habe. Der dramatische Schluss ist sehr erwartbar und in meinen Augen zu stark konstruiert.
Neu ist die starke und allgegenwärtige Gesellschafts- und Kapitalismuskritik, die Gunty direkt und metaphorisch zu ihrer Hauptbotschaft macht.

Der amerikanische Traum ist tot und hat sich in vergiftetes Futter für die Kaninchen verwandelt, die in ihrem Stall dahinvegetieren. Nur ganz am Ende öffnet Gunty die Türe ein klein wenig für einen Lichtstrahl der Hoffnung. Ob diese Türe aufgestoßen werden kann überlässt sie mir und meinem Weltbild.

Sprachlich für mich ein Highlight auf aufsehenerregendem Niveau , mit dem die eigentliche Geschichte leider nicht mithalten kann. Ein Hammer Debütroman, dem hoffentlich noch einiges folgen wird!
von @lust_auf_literatur - 2023-07-18 15:13:00