Rezensionen

Die Anomalie
Roman. Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt 2020

Autor: Hervé Le Tellier

Erschienen 2021 bei Rowohlt, Hamburg;Rowohlt Buchverlag
ISBN 978-3-498-00258-9
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Enormer experimenteller Lesespaß - 5 Sterne

Im März 2021 gerät eine Boeing 787 des Air-France-Flugs 006 Paris-New York während des Durchquerens einer Cumulonimbus-Wand in einen Sturzflug. Der Pilot Markle kann jedoch wie geplant sicher landen. Drei Monate später im Juni landet dieselbe Maschine mit denselben Passagieren ein zweites Mal. Plötzlich gibt es Menschen zweimal, zweihundert Mal.

Die Anomalie ist im wahrsten Sinn ein phantastischer Roman. Zum einen die sprachliche überragende Qualität, und zum anderen die exquisite Entwicklung der Charaktere und dem Plot, ein raffiniertes Mischwerk aus Spekulation, wissenschaftlich gestützter Antizipation, Zeitsatire, Thriller, literarischem Spaß und mathematisch-philosophischem Experiment. Mit einem Patzen Ironie, was vom Franzosen Tellier, der über die Agitation der Amerikaner in New York schreibt, nicht verwunderlich ist.

Blake, ein Auftragskiller in Paris, einer der Besten, der guten Kaffee schätzt, aber nur der „mit dem engen Zusammenspiel einer exzellenten Bohne, frisch gerösteter, fein gemahlener Nicaragua, einem gefilterten und weichen Wasser und einem Perkolator, einem täglich gereinigten Cimbali .“ Klar Cimbali, aber es muss eine White Eagle Edelstahl mit X3-Technologie sein.
Joanna, eine schwarze amerikanische Staranwältin, die während jenen Atlantikflugs – wenn sie ihn überlebt - beschließt, ihren Geliebten Abraham zu heiraten. „Vor ihrer Hochzeit sollten ihre Keimzellen einander Bekanntschaft gemacht haben und stante pede beschlossen, zu fusionieren.“
Slimboy, ein nigerianische Starsänger. Zu Hélène, „sie tragen ein wunderbares tapaphy … pataphysisches Gewand.“ Glauben die Nigerianer an die ‚Pferdeäpfel-Theorie‘? „Wenn man einem Pferd genug Hafer gibt, wird auch etwas auf der Straße landen, um die Spatzen zu füttern.“ (‚Trickle-down-Theorie‘ oder ‚Horse and Sparrow-Economics‘).

Zwangslandung auf der Militärbasis McGuire, Anwendung von Protokoll 42, es könnte sich doch um Anflug von Außerirdischen handeln (um Reptilien in Menschengestalt). Tellier macht sich ironischerweise die Analogie zu Area 51 zunutze, halten die Amerikaner dort Außerirdische gefangen.
Nun werden die kasernierten Doppelgänger unter Starfandrohung ‚interviewt‘, mit allem was das amerikanische Krisenmanagement zu bieten hat: NSA, CIA, FBI, Norad, das Verteidigungs- und Außenministerium, die U.S. AirForce und das PsyOP (Psychological Operation) zuständig für …Kriegsführung … fremder Zivilbevölkerungen…. Vielleicht stecken in den Doppelgängern doch Reptilienmenschen. Nicht zu vergessen den Präsidenten, „er verharrte mit offenem Mund, weist starke Ähnlichkeit mit einem fetten Barsch unter blonder Perücke auf.“
Eingeladen sind sämtliche geistlichen ‚Würdenträger‘ aller bekannten und unbekannten Religionen und Weltanschauungen. Wo findet man den Hinweis, ‚dass eines Tages aus dem Azur des Himmels ein Flugzeug auftauchen würde, das in jedem Punkt identisch ist mit einem anderen, das drei Monate zuvor gelandet ist?‘
Die menschlichen? Duplikate‚ ‚…haben beide dieselbe Persönlichkeit und dieselben Erinnerungen, sodass der eine wie der andere davon überzeugt ist, das Original zu sein. Ihre beiden Hirne sind auf dieselbe Weise kodiert, sowohl in chemischer und elektrischer Hinsicht als auch hinsichtlich der Atome.‘

Ein besonders vielschichtiges und emotionales Kapitel in dem reich an komplexen Themen ist die Auseinandersetzung der Doppelgänger von Angesicht zu Angesicht. Wiederholt brilliert der außerordentliche Literat Tellier.

Hervé Le Tellier ist Mathematiker und Linguist. Tellier ist aber auch Oulipoet (Ouvroir de littérature potentielle), und damit dem Vergnügen und dem Surrealen verpflichtet. Es bereitete ihm sicher höchstes Vergnügen, diesen Science-Fiction-Roman zu schreiben und dasselbe hofft er von seinen Lesern.

Hervé Le Tellier hat mit diesem brillant geschriebenen Roman, den Goncourt-Preis 2020 erhalten und mit rund einer Million verkauften Exemplaren einer der größten Erfolge seit Jahren in Frankreich erreicht.
von Manfred Fürst - 2022-03-08 11:01:00

Spannend und hintergründig - 5 Sterne

Der Autor, ein studierter Mathematiker und Sprachwissenschaftler, konnte mit diesem Werk den Prix Goncourt 2020 gewinnen. Ein Preis, der zwar nur mit symbolischen 10 Euro dotiert ist, aber für gute Verkaufszahlen sorgt.

Ein und derselbe Jet landet mit den völlig identischen Passagieren an Bord zweifach in New York. Das erste Mal im März, das zweite Mal im Juni.
Zahlreiche Wissenschaftler von Psychologen bis zu Astrophysikern, Vertreter des Geheimdienstes, der Politik und des Militärs versuchen dieses Phänomen zu verstehen oder zumindest zu erklären ;-). Unter anderem wird die philosophische Idee der Simulationstheorie oder die Wurmlochtheorie als Erklärung diskutiert. Zu meinem Glück muss man als Leser diese Theorien nicht vollständig verstehen, um der Geschichte folgen zu können. Es sind aber immer wieder sehr interessante Gedankenspielereien. Wer weiß, vielleicht sind wir ja tatsächlich Simulationen?

Und dann sind da ja auch noch die Passagiere. Spannend und vielschichtig werden die Lebensumstände und Verwicklungen von 11 Passagieren erzählt. Nur 11 von über 200 – aber es ist auch so verwirrend genug! 106 Tage Leben machen den Unterschied zwischen den einzelnen „Ichs“. Jeder von ihnen wird mit sich selbst konfrontiert. Jedes Duo findet eine andere, oft kreative Lösung für die Zukunft - nicht immer friktionsfrei. Es entwickelt sich eine Fülle von unterhaltsamen, individuellen Geschichten. Und auch zum Schluss geizt Le Tellier nicht mit überraschenden Entwicklungen.

Es ist ein außergewöhnliches Buch, das nicht eindeutig einem Genre zugeordnet werden kann. Eine genussvolle Mischung aus Science-fiction, Krimi, Thriller, Satire, Komödie und Drama – ein literarisches Vergnügen!
Verwirrend kluge, allerbeste Unterhaltung!
von MiriamBrandl - 2021-11-04 11:21:00

Kein Titel - 5 Sterne

Im März 2021 fliegt eine Boeing 787 auf dem Weg von Paris nach New York durch ein heftiges Gewitter. Die Turbulenzen sind gewaltig, das Flugzeug ist beschädigt, doch die Landung glückt. Im Juni landet eine Boeing mit derselben Flugnummer und denselben Passagieren ein zweites Mal. Soweit die Science-Fiktion. Im Flieger sitzen der Architekt André und seine Geliebte Lucie, der Auftragskiller Blake, der nigerianische Afro-Pop-Sänger Slimboy, der französische Schriftsteller Victor Miesel, eine amerikanische Schauspielerin. Sie gibt es nun tatsächlich doppelt − sie sind mit sich selbst konfrontiert, in der Anomalie einer verrückt gewordenen Welt. Der Autor spielt nun die verschiedesten Konstellationen durch, in denen sich die verdoppelten Personen befinden. Der Mörder entledigt sich seines Doppelgängers, der Pop-Sänger erklärt sein Double zum Zwillingsbruder, der im Sterben liegende Pilot, wird den Kindern als wieder genesen präsentiert ...Sensationell!
von Andreas Besold - 2021-09-23 15:32:00

Die Anomalie - 5 Sterne

Mir war dieser französische Autor völlig unbekannt, obwohl er doch über die Jahre zahlreiche Literaturpreise erhalten hat. Und dann wird das neue Buch ein internationaler Bestseller. So ein Leseerlebnis hatte ich schon lange nicht mehr: Ohne den Klappentext zu kennen, habe ich mich auf die Menschen eingelassen, die es plötzlich zweimal gibt. Nach jedem Kapitel musste ich pausieren, kurz ist mir auch die Luft weggeblieben. Wie Le Tellier die Spannung aufbaut, ist unglaublich. Und wenn man sich auf diese irrwitzige Idee eines Boing Fluges Paris-New York einlässt, der unerklärlicher Weise doppelt landet, dann hat man wirklich eine schlaflose Nacht, denn die Mischung macht es: Spannend wie ein Krimi und doch große Literatur!
von Barbara Kumpitsch - 2021-08-23 09:21:00