Rezensionen

Lichtspiel
Roman | "Ein Geniestreich von einem Roman, ein Buch, das bleiben wird." ARD Druckfrisch

Autor: Daniel Kehlmann

Erschienen 2023 bei Rowohlt, Hamburg
ISBN 978-3-498-00387-6
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Georg Wilhelm Pabst als tragische Figur - 5 Sterne

Daniel Kehlmann dürfte den meisten durch sein Erfolgsbuch „Die Vermessung der Welt“ bekannt sein. Auch in seinem neuesten Werk „Lichtspiel“ widmet er sich einer historischen Figur: Dem Regisseur Georg Wilhelm Pabst. Und eines gleich vorweg: Der Roman hat mir sehr gut gefallen.

Schon der Einstieg ist klasse. Franz Wilzek (eine fiktive Figur!), selbst Regisseur und ehemaliger Kameraassistent von G. W. Pabst, wird in die Sendung „Was gibt es Neues vom Sonntag“ von Heinz Conrads eingeladen. Was diese Rahmenhandlung so besonders macht, ist der geistig verwirrte Zustand, in dem sich Wilzek befindet und der gut zum Ausdruck kommt. Er wirkt orientierungslos und überfordert, hat Schwierigkeiten sich zu erinnern und kann nicht angemessen auf die Fragen des Moderators reagieren. Die Folge seiner Demenzerkrankung.

Danach folgt ein Schwenk nach Hollywood. Pabst ist inmitten von Verhandlungen für einen neuen Film. Man will ihn mit amerikanischer Freundlichkeit überreden, einen Film zu drehen, der nicht nach seinem Geschmack ist. Pabst lehnt zunächst ab, bleibt kategorisch bei seinem „Nein“. Eine sehr humorvolle Passage. Die interkulturellen Missverständnisse, das schlechte Englisch von Pabst, all das wurde hervorragend gestaltet und wirkt amüsant.

Danach folgen immer wieder Sequenzen aus dem Leben des Regisseurs. Einzelne Stationen werden szenenartig aneinander gereiht. Dazwischen immer wieder Zeitsprünge. Und ich stoße bei meiner Lektüre immer wieder auf Highlights: z.B. die Unterredung mit Greta Garbo, die eine von Pabst angebotene Rolle ablehnt. Sie ist zwar dankbar, dass Pabst sie berühmt gemacht hat, aber ihre Dankbarkeit kennt Grenzen. Auch Pabsts Rückkehr mit dem Zug in seine Geburtsland blieb mir im Gedächtnis: Er weiß genau, welche politischen Zustände im Land herrschen. Trotzdem verordnet er sich, seiner Frau und seinem Sohn zu schweigen. Wie er wirklich über die politischen Veränderungen denkt, erfahren wir nicht. Er bezeichnet sich selbst als nichtpolitischen Menschen. Eine weitere gut arrangierte Textstelle ist Pabsts Gespräch mit Goebbels. Es wird deutlich, dass Pabst eigentlich gar keine Absicht mehr hat, weitere Filme zu drehen. Propaganda ist ihm zuwider. Doch der Propagandaminister legt ihm Worte in den Mund und droht ihm subtil. Der Regisseur kann sich nicht behaupten und knickt ein. Und man fragt sich als Leser:in automatisch die alles entscheidende Frage: Wie hätte man selbst gehandelt?

Deutlich wird auch, was für eine tragische Figur Pabst ist. In den USA will sich der Erfolg nicht so recht einstellen, sein erster Film schlägt nicht ein und er kassiert Absagen von weiblichen Darstellerinnen. Er weicht zunächst in andere Länder wie z.B. Frankreich aus, doch es gelingt ihm einfach nicht, an alte, erfolgreiche Zeiten anzuknüpfen. Er entschließt sich in seine Heimat zurückzukehren, trotz des Wissens um die dort herrschenden politischen Zustände. Und als er seinen Fehler erkennt und ihn korrigieren will, bricht der Krieg aus, die Grenzen werden geschlossen und Pabst sitzt mit seiner Familie fest. Es gibt kein Zurück mehr. Und das Regime ist bereits auf ihn aufmerksam geworden. Er wird, wie schon erwähnt, vom Propagandaminister Goebbels nach Berlin eingeladen und kann dem auf ihn ausgeübten Druck nicht widerstehen. Er dreht wieder Filme und muss sich mit dem Regime arrangieren.

Ich bin mit der Erwartungshaltung an das Buch gegangen, dass Pabst ein Opportunist ist. Dies würde ich nach der Lektüre aber nicht mehr so sehen. Pabst hält sich einfach heraus, er will nicht sehen, was um ihn herum passiert. Er nimmt zwar stellenweise wahr, was um ihn herum passiert (das wird v.a. bei den dargestellten Dreharbeiten deutlich), schweigt aber dazu und behält seine Gedanken für sich. Dennoch wird für mich an vielen Stellen deutlich, dass er mit dem Regime hadert und längst nicht mit allem einverstanden ist. Doch er harrt im Land aus und stürzt sich in die Arbeit. Das Drehen von Filmen ist seine Ablenkung. Pabst wird zunehmend „umgebungsblind“, ihm geht es nur darum, wieder einen großen Erfolg einzufahren. Das zeigt sich vor allem bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Der Fall Molander“. Und man kann sich wieder fragen: Welche Wahl hat er auch? Er muss sich mit den Gegebenheiten arrangieren. Hat er eine Alternative? Wenn ja, welche? Es lohnt sich auch, das Vater-Sohn-Verhältnis genauer in den Blick zu nehmen, um Pabsts Ansichten zum Krieg auszuloten. Eine Entfremdung zwischen den beiden wird nur allzu deutlich. Und es zeigt sich auch am Beispiel des Sohnes, wie das Sein das Bewusstsein bestimmt.

Was mich während der Lektüre ständig umtreibt, ist die Frage, was tatsächlich historisch verbürgt ist und was fiktiv ist. Kehlmann verwebt Fiktion und Fakten. Es gibt fiktive Figuren wie z.B. Franz Wilzek aus der Rahmenhandlung und weitere. Auch die Gespräche zwischen den Figuren sind fiktiv. Mich verunsichert so etwas immer, denn ich möchte mir ungern etwas Falsches merken. Doch Kehlmann geht es nicht darum, einen historischen Roman zu schreiben (hier empfehle ich eher Bücher von Ulf Schiewe). Trotzdem hätte ich mir ein informativeres Nachwort gewünscht, in dem der Autor evtl. darlegt, was Wirklichkeit ist und was nicht. Mein Wunsch nach einem umfangreicheren Nachwort führt aber nicht zu einem Sternabzug. So komme ich für dieses lesenswerte Buch auf 5 Sterne!
von Tobias Kallfell - 2023-12-06 17:02:00

ein tolles Buch - 5 Sterne

Ich lese sehr gerne den Autor Daniel Kehlmann und habe mir deshalb dieses neu erschienene Buch von dem Autor gekauft und gelesen. Ich bin wieder einmal gefesselt worden von der spannenden Geschichte um einen Regisseur, der sozusagen mit der dunklen und schlimmsten Seite der Macht kooperiert und selbst Erfolge feiert. Ob er da so unschuldig hineingeraten ist wie es scheint, wird wohl nie so ganz herauskommen, aber diese Lücke des Wissens auch Teil der Spannung des Buches. Ich finde besonders gut, dass es aus verschiedenen Perspektiven und Figuren erzählt wird und so mit verschiedenen Lebenssituationen in der NS Zeit auseinandersetzt. Die Sprache des Buches hat mir wie bei allen anderen Büchern des Autors ebenfalls sehr gut gefallen und ich wollte dieses Buch einfach schnellstmöglich lesen die gesamte Geschichte aufnehmen. Ein super Buch.
von v_im_wunderland - 2023-12-01 22:29:00

Lichtspiel - 5 Sterne

"Lichtspiel" von Daniel Kehlmann ist ein Roman übers Überleben. G. W. Pabst ist aufgrund seiner Stellung und Bekanntheit sicher nicht der Durchschnittsmensch im Deutschen Reich, aber er ist ein Stellvertreter für die Deutschen und Österreicher, die einfach nur versucht haben, in Kriegszeiten durchzukommen. Das mag moralisch nicht richtig gewesen sein, menschlich ist es nachvollziehbar.

Natürlich geht es um Kinogeschichte und um das Prinzip "Kino": Um Wahrnehmung, Wahrheit und Inszenierung, um Auslassen und Ergänzen, um das Steuern des Blicks der Zuschauer (oder Leser) - und genau diese Elemente übernimmt Kehlmann spielerisch in seinem Erzählstil.
"Lichtspiel" ist sehr bild- und filmhaft. Ein Kapitel, in dem Pabst beim Propaganda-Minister vorsprechen muss, wirkt wie eine Szene aus "Der große Diktator". Auch die Figuren haben etwas Filmhaftes, sind teilweise vereinfachte Abziehbildchen und Stereotype, die man sich alle sehr gut vorstellen kann - und die ihre "Rolle" in der Geschichte erfüllen.

Die Story ist spannend, die Schilderungen empathisch. Szenen, bei denen es um die Hilflosigkeit gegenüber der faschistischen Macht geht, beklemmen und machen wütend.

Ein großartiger Roman, der zu meinen Lieblingsbüchern dieses Jahr gehört!
von MMag. Katharina Huchler - 2023-11-15 20:29:43

Eine echte Empfehlung - 5 Sterne

Mit „Die Vermessung der Welt“ hat Daniel Kehlmann nicht nur mich sehr beeindruckt. Sein neuester Wurf „Lichtspiel“ entpuppt sich ebenfalls als genial gut erzählte Geschichte einer historischen Persönlichkeit.
Nicht Alexander von Humboldt, sondern der berühmte österreichische Regisseur G.W. Pabst ist das Objekt der Beschreibung.
Pabst, in den 1920ger und 1930ger weltweit gefeierter Regisseur, landet 1938 nach einem eher missglückten Fast-Exilaufenthalt in den USA durch verschiedene Umstände wieder in Österreich, kommt aufgrund der geschlossenen Grenzen nicht mehr ins Ausland und stimmt dann doch mehr oder weniger freiwillig einer Fortsetzung seiner Filmkarriere in Nazi-Deutschland zu.
Brillant geschrieben schildert Kehlmann den Lebensweg dieses einerseits aussergewöhnlichen Künstlers, aber andererseits auch schwachen Charakters.
Höchst unterhaltsam und fesselnd! Eine echte Empfehlung.
von Mr. HEYN Helmut Zechner - 2023-11-03 08:23:16

Lichtspiel - 5 Sterne

Deutschland im Umbruch. Der bekannte Regisseur G.W. Pabst versucht in Hollywood Fuß zu fassen, was ihm nicht gelingt. Wieder zurück in Österreich = Ostmark, liegt sein Überleben in den Händen der Nazis, mit denen er kooperieren muss. Ein großartiger Roman in einer wunderbaren Sprache verfasst.
von Doris Stadlbauer - 2023-10-26 12:28:37

Spiel mit Fiktion und historischer Wirklichkeit - 5 Sterne

Das akribisch recherchierte Leben des zwiespältigen Regisseurs und Filmemachers Pabst. Zurück in Österreich, weil er in Amerika nicht Fuß fassen konnte, obwohl er der gefeiertste Regisseur der Weimarer Republik war, ist er gezwungen, sich mit den Nazis zu arrangieren. Das Angebot Goebbels, "bedenken Sie, was ich bieten kann, jedes Budget, jeden Schauspieler, jeden Film", nimmt er an, weil die Alternative das KZ wäre. Mitläufertum ist ein zentrales Element des Buches, Kehlmann erzählt aus verschiedenen Perspektiven, mit einer unglaublichen Fülle filmischer Details und feinem Humor.
von HEYNi Christine Klepitsch im Unruhestand - 2023-10-23 17:34:23

Ungeklärte Filmgeschichte - 5 Sterne


Der erfolgreiche deutsche Filmregisseur G.W. Pabst verlässt Nazi-Deutschland mit seiner Frau Trude und Sohn Jakob, um es in Hollywood zu versuchen und daran kläglich zu scheitern. Auf der Suche nach dem nächsten großen Film zieht es ihn mit seiner Familie zurück nach Europa und schließlich mitten hinein in die Propaganda-Filmindustrie der Nazis. Kann man zu der Zeit noch deutsche Filme machen, ohne selbst schuldig zu werden? Und wird Pabst damit zum Opfer der NS-Geschichte oder zum Täter? Und was ist eigentlich wirklich passiert?
Kehlmanns Roman über die deutsche Filmindustrie während der NS-Zeit ist selbst spannend, unterhaltsam und zum Nachdenken anregend wie ein guter Spielfilm. Auch die Charaktere scheinen wie Filmfiguren zu sein: Da ist Pabst als komplex gezeichneter Protagonist, daneben gibt es ihm zuspielende Nebenfiguren, deren eigene Geschichte ebenfalls angedeutet wird wie z.B. die seines Assistenten Franz, aber auch klare Antagonisten wie z.B. Riefenstahl. All dies wird in einer Vielfalt an verschiedenen Erzählperspektiven und -stilen vermittelt, dass man die Freude am Schreiben zwischen den Zeilen spüren kann. Große Empfehlung!
von Lu - 2023-10-19 13:04:00

erstklassik - 5 Sterne

Ich bin ein großer Daniel Kehlmann Fan, ich habe schon viele Bücher von ihm gelesen und hatte deshalb sehr hohe Ansprüche und Erwartungen an das Buch und ich kann mit Begeisterung sagen, dass sie alle erfüllt wurden!! Es handelt von einem Regisseur der große Erfolge zu Stummfilmzeiten in Deutschland hatte und Greta Garbo entdeckt hat. Dieser flieht dann bei der Machtergreifung der Nazis nach Amerika mit seiner Familie und kann dort aber nicht an seine Erfolge anschließen. Durch verschiedene Umstände kommt er dann nach Deutschland und strandet dann dort durch den Kriegsausbruch. Diese Situation bringt ihn in eine komplett andere Lage und es wird so richtig spannend. Eine tolle und spannende Geschichte über die Filmszene in Zeiten des Krieges und wieder über eine reale Persönlichkeit. Ich kann dieses Buch allen Literaturfans empfehlen!!!!
von inya - 2023-10-17 12:52:00

Die Überschätzung der Wirklichkeit - 5 Sterne

"Wären diese Menschen nicht die Verkörperung des Bösen, man wäre immer wieder versucht, von ihrer Hingabe ans überflüssige Detail beeindruckt zu sein." (S. 315)

G.W. Pabst ist Filmregisseur. Bekannt wurde er mit Stummfilmen, etwas schwerer tut er sich mit der Inszenierung des neu aufkommenden Tonfilms. Weil er als Kommunist gilt und die Nazis in Deutschland immer mehr Macht gewinnen, versucht er sein Glück in den USA. Dort wird er dazu überredet, ein schlechtes Drehbuch zu verfilmen, bei dem er sofort weiß, dass es ein Flopp werden wird – nach nur einer Woche Spielzeit wird der daraus entstandene Film aus den Kinos genommen. Nachdem ihm in Frankreich ein Angebot gemacht wurde, kehrt er nach Europa zurück, doch durch die zugespitzte politische Lage, wird er auch hier nicht erfolgreich. Als er mit seiner Frau und seinem Kind zurück nach Amerika will, erhält er einen Hilferuf seiner betagten Mutter aus der Steiermark. Schnell noch will er dafür sorgen, dass sie in einem Sanatorium untergebracht wird und fährt dafür in seine Heimat. Unglücklicherweise beginnt just zu dieser Zeit der Zweite Weltkrieg, der verhindert, dass Pabst und seine Familie Nazi-Deutschland verlassen können. Sogleich wird er vor die Wahl gestellt: entweder er dient dem Nazi-Regime als Filmemacher, um die Menschen bei Laune zu halten, oder sein Weg und jener seiner Familie führt ins KZ. Nach anfänglichem, innerem Widerstand beugt er sich und versucht, das Beste aus seiner Lage zu machen. Immer mehr gewöhnt er sich an die neuen Umstände, seine Frau Trude jedoch scheint daran zu zerbrechen. Pabst versetzt sich in einen Wahn, der die Wirklichkeit nach und nach verdrängen zu scheint.

Daniel Kehlmann kreiert in „Lichtspiel“ neuerlich eine gekonnte Mischung aus Fiktion und Realität. Er führt die Leser:innen mit einer multiperspektivischen Erzählweise an die reale Figur G.W. Pabst heran und zeichnet dabei einen Charakter, der mehr und mehr den Realitätssinn verliert. Die Person G.W. Pabst fokussiert sich auf das Erschaffen des perfekten Films, was ihm den Terror des Regimes vergessen oder verdrängen lässt. Schnell weiß er, was gesagt und was nicht gesagt werden darf. Während Pabst sich darauf einlässt, scheint seine Frau Trude daran zugrunde zu gehen. Pabst versucht immer mehr so unpolitisch wie möglich zu sein, für ihn zählt nur, dass er den perfekten Film macht. Beim großen Showdown kann er die Realität nur noch als Film wahrnehmen und als ihm ein großes Unglück passiert, flieht er in sein eigenes Ich, das ihn fortan von der Außenwelt abzuschotten scheint. Die Protagonist:innen, die Kehlmann vors Publikum holt, sind meist namhafte Schauerspieler:innen und Filmschaffende, die meisten davon gab es in der Realität. In gekonnter Manier überspitzt er ihre Charakterzüge und lässt sie dadurch allesamt als schrullige Personen auftreten. Trotz der Schwere und Bedrückung, die die Existenz des Nazi-Regimes verbreitet, kehrt durch die Besonderheit der Figuren eine amüsante Leichtigkeit beim Lesen ein, die gewagt und sicher nicht jedermanns oder jederfraus Geschmack ist. Besonders die fiktive Figur des Hausmeisters und seiner Familie auf Pabst Schloss in Tillmitsch ist eine Allegorie des Schreckens des Nazi-Regimes und lässt einen die Unmöglichkeit des Entkommens nur allzu gut nachfühlen. Die fortschreitende Wahnhaftigkeit führt dazu, dass Pabst jegliche Moral vergessen zu scheint, er blockt sich nach Außen ab und lässt es auch nicht zu, dass sein unmoralisches Handeln kritisiert wird. Die Wahnhaftigkeit eskaliert und von Pabst bleibt nur mehr die unzugängliche Hülle übrig und seine Frau übernimmt nun die Regie über ihre Leben. Am Schluss war ich beim Lesen so erschöpft, dass ich mir das Ende des Buches dringlichst herbeiersehnt hatte.

Meines Erachtens ist Daniel Kehlmann ein weiteres Meisterwerk gelungen, das es trefflich versteht, die innerliche Zerrissenheit über die gesellschaftlichen Gegebenheiten durch eine komplette Realitätsverweigerung darzustellen. „Lichtspiel“ zu lesen ist teils erheiternd, teils enorm bedrückend, teils kaum auszuhalten und doch eine irrsinnige Bereicherung.

Im Spinnennetz - 5 Sterne

Georg Wilhelm Pabst ist heute beinahe vergessen, dabei zählte er einst zu den Großen der Filmindustrie. Neben Lang, Murnau und Lubitsch war er einer der berühmtesten Regisseure der Weimarer Republik. Er gilt als Entdecker von Greta Garbo, die durch seinen Film „ Die freudlose Gasse“ zu Weltruhm kam.
Nun hat Daniel Kehlmann, der schon mehrmals historische Figuren zu Protagonisten seiner Bücher gemacht hat, diesen Regisseur ins Zentrum seines neuesten Romans gestellt.
Pabst war zum Zeitpunkt der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Frankreich und reiste dann in die USA. Er versucht, wie viele emigrierte Künstler, hier Fuß zu fassen. Doch er scheitert. Denn er wird gezwungen, einen mittelmäßigen Film abzuliefern, der dann auch ein Misserfolg wird. Daraufhin kehrt Pabst mit Frau und Sohn nach Europa zurück, in die „ Ostmark“, wie das besetzte Österreich nun heißt, zu seiner kranken Mutter. Aber dann bricht der Krieg aus, die Grenzen sind dicht und die Familie Pabst sitzt fest.
Nicht lange und Goebbels ruft ihn zum Gespräch. Deutschlands Filmindustrie braucht namhafte Künstler, nicht nur aus Imagegründen, sondern auch, weil durch die Emigration ein Mangel an ihnen herrscht.
Pabst versucht sich zu entziehen; er habe nicht die Absicht, weitere Filme zu machen. Doch Goebbels kennt keinen Widerspruch. „ Falsche Antwort, falsche Antwort, falsche Antwort …“
Dies ist eine der zentralen Szenen im Roman. Surreal und übermächtig mutet schon das übergroße Büro des Propagandaministers an. Und unverhohlen droht der mächtige Goebbels: „ Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann… zum Beispiel KZ. Jederzeit. Kein Problem. Aber das meine ich ja gar nicht. Ich meine, bedenken Sie, was ich Ihnen auch bieten kann, nämlich: alles, was Sie wollen. Jedes Budget, jeden Schauspieler. Jeden Film, den Sie machen wollen, können Sie machen.“
Und hier liegt die große Versuchung. Denn Pabst will natürlich arbeiten. Die Arbeit ist sein Leben. Doch Filme drehen kann man nicht für sich daheim, dazu benötigt man viele Ressourcen, ist angewiesen auf Geldgeber. Aber darf man deshalb einen Pakt schließen mit dem Bösen? Rechtfertigt die Kunst alles? Inwiefern macht sich Pabst schuldig? Um diese Fragen kreist der Roman.
Pabst begründet seine Zusammenarbeit mit den Nazis. „ Denn all das geht vorbei. Aber die Kunst bleibt.“ Seine kluge Frau Trude dagegen sieht das anders, denn, selbst wenn das stimme, „ Bleibt sie nicht beschmutzt? Bleibt sie nicht blutig und verdreckt?“
Es ist unbestritten, dass Pabst nie reine Propagandafilme gedreht hat; er war kein Nazi. Aber er hat sein Schaffen in den Dienst eines unmenschlichen und skrupellosen Regimes gestellt. Darf man das und was macht das mit einem ?
Die andere Frage ist, ob Pabst überhaupt eine Wahl hatte.
Diesen Zwiespalt und seine Konsequenzen aufzuzeigen, das schafft Kehlmann auf großartige Weise.
In unzähligen Episoden und mit einer Fülle von Details lässt er die damalige Zeit aufleben. Wir treffen jede Menge historischer Figuren, Mitläufer wie Heinz Rühmann ( „ Ganz ohne Kompromisse geht es natürlich nicht“.) oder die Schauspielerin und Regisseurin Leni Riefenstahl, die ihre Arbeit ganz in den Dienst der NS- Ideologie gestellt hat. Bei Kehlmann wird sie zur bösen und völlig talentfreien Nazisse.
Und der britische Schriftsteller P.G. Wodehouse, hier unter dem Namen Rupert Wooster, fungiert in einem Kapitel sogar als Ich-Erzähler. Ihn haben die Nazis als Gefangenen im Hotel Adlon untergebracht, mit der Auflage regierungsfreundliche Rundfunkbeiträge zu verfassen.
Eine zentrale Rolle im Roman spielen ebenfalls Pabsts Ehefrau Trude und sein Sohn Jakob. An Beiden macht sich Pabst schuldig durch seine Rückkehr nach Nazi-Deutschland. Die Umstände führen zur Entfremdung der Eheleute und lassen Trude Zuflucht im Alkohol suchen. Und der Sohn lernt sich anzupassen, entwickelt sich zum begeisterten Hitlerjungen und Kriegsfreiwilligen.
Es gibt jede Menge filmreifer Szenen, wie die Hollywood-Party gleich zu Beginn. Wie eine Kamera wird der Fokus auf eine Gruppe Menschen gerichtet, man belauscht deren Gespräche und dann zoomt die Kamera weiter zum Nächsten. Nicht frei von Komik sind hier Pabsts Versuche, Anschluss an Hollywoods Filmschaffende zu finden. Wie ein Fremdkörper wirkt er mit seinen österreichischen Manieren und seinem rudimentären Englisch.
Ein weiterer komödiantischer Höhepunkt ist jene Szene, in der Trude in die Fänge eines nur aus Damen bestehenden Lesezirkels gerät. Denn in der Gruppe werden ausschließlich Werke des Nazi-Schriftstellers Alfred Karrasch gelesen und besprochen. Doch was soll sie sagen zu einem Buch , das „ so uninteressant [ ist ], dass es nicht einmal schlecht war.“
Und ausgerechnet diese Schmonzette wird Pabst später unter dem Titel „ Der Fall Molander“ verfilmen. Wie ein Besessener arbeitet er in den letzten Kriegstagen an der Fertigstellung dieses künftigen „ Meisterwerks“. Hier lässt Kehlmann offen, ob der Regisseur, wie Leni Riefenstahl für „ Tiefland“ , Menschen aus Arbeits- und Konzentrationslager als Statisten benutzt hat.
Die Filmrollen gehen dann in den Wirren der letzten Kriegstage unter und bleiben verschollen, so will uns Kehlmann glauben lassen. ( Tatsächlich lagern sie in einem Filmarchiv in Prag.)

Der Roman wechselt beständig die Perspektiven. Es gibt diverse Ich- Erzähler und dazwischen auktoriale und personale Erzählpassagen. Interessant ist, dass wir keinen Einblick in die Innenwelt des Protagonisten bekommen. Pabst wird umkreist wie mit einer Kamera, die seine Handlungen und seine Mimik und Gestik vorführt, die der Leser deuten soll. Aber Pabst war anscheinend, wie Kehlmann andeutet, selbst für seine Nächsten ein Rätsel.
„ Man konnte nicht sehr gut mit ihm sprechen. Wenn er nicht gearbeitet hat, war er nicht ganz anwesend… Es ist ja alles in seinen Filmen.“ lässt er seinen Sohn Jakob rückblickend sagen.
Mit der Sprache geht der Autor gekonnt um. Passend zum Setting und zur jeweiligen Figur ändert sich diese. Surreale und alptraumhafte Sequenzen durchbrechen den ansonsten vorherrschenden Realismus.
Aufgebaut ist der Roman in drei Teile: „ Draußen“, „ Drinnen“ und „ Danach“, wobei „ Drinnen“ in den Fängen der Nazi-Diktatur im Zentrum steht.
Dazu gibt es eine Rahmenhandlung um den fiktiven Regieassistenten Franz Wilzek, der mit Pabst in Prag am Film „Molander“ gearbeitet hat. Dieser Fritz hat gleich zu Beginn des Romans einen tragikomischen Auftritt. Er, mittlerweile alt und leicht dement, wird als Gast in eine Fernsehtalkshow eingeladen und soll hier erzählen, wie die Zusammenarbeit damals mit dem großen Regisseur war. Als die Frage nach dem unauffindbar gewordenen Film kommt, bestreitet Fritz, sichtlich nervös, dass dieser je gedreht wurde. Am Ende dann erfahren wir hierzu mehr.
Kehlmann hat eine intensive Recherche betrieben, doch er hat, wie er selbst betont, keine Biografie geschrieben, sondern einen Roman. Um das zu unterstreichen gibt es z.B. kleine Namensänderungen und es gibt zwei entscheidende Figuren, die Kehlmanns Phantasie entsprungen sind, so z. B. Franz Wilzek.
Daniel Kehlmann ist mit „ Lichtspiel“ ein großer, ein vielschichtiger Roman gelungen über einen Künstler, der sich korrumpieren ließ. Aus dem ehemals „ roten Pabst“, der Brechts „ Dreigroschenoper“ verfilmt hat und der mit sozialkritischen Werken in die Filmgeschichte einging, wurde ein Verbündeter des Dritten Reichs. Ein Urteil maßt sich Daniel Kehlmann nicht an. Das mag der Leser fällen. Der darf sich aber auch fragen, wie er sich in einem ähnlichen Fall verhalten würde. So weist der Roman über die historische Ebene hinaus.
von Ruth - 2023-10-12 18:46:00