Rezensionen

Menschen neben dem Leben
Roman

Autor: Ulrich Alexander Boschwitz

Erschienen 2019 bei Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-96409-7
Rezension verfassen

Episoden voller Entbehrungen und Emotionen - 4 Sterne

Der jung verstorbene Ulrich Alexander Boschwitz skizziert hier anhand mehrerer Charaktere das Bild bestimmter Bevölkerungsschichten aus dem Berlin der Zwischenkriegszeit. Sie alle stehen in gewisser Hinsicht “neben dem Leben” - neben dem der gut situierten oder der über alle Zweifel erhabenen.

In unterschiedlichen Szenen begegnet der Leser Emil Fundholz, der betteln geht um Nahrung und Unterkunft zu haben; Tönnchen, einem leicht zurückgebliebenen Mann, der Fundholz’ Begleiter und von ihm abhängig ist; Grissmann, der Einbrüche dem Betteln vorzieht; Frau Fliebusch, die sich in ihre eigene Welt zurückgezogen hat; Minchen, die zwar deutlich mehr Geld hat als die anderen, dieses aber in der Waagrechten verdient - und vielen mehr.

Es sind teils komische, dann wieder sehr ernste und auch gefährliche Episoden die wir mit den Protagonisten erleben und die zeigen wie viel sie entbehren mussten, mit wie wenig sie auskamen und dass manche für uns alltägliche Dinge damals einfach unerreichbar waren.

Auch wenn die Abschnitte grundsätzlich chronologisch verlaufen, auch innerhalb der einzelnen Handlungsstränge der Figuren, sind sie doch keine so komplett zusammenhängende Geschichte wie man vermuten könnte. Am Ende aber lässt Boschwitz einige Charaktere aufeinanderprallen und sein Finale explodiert förmlich in einem Strudel an Emotionen. Das war auch das Einzige, wovon die Leute damals (zu) viel hatten und das nichts kostete.

Wer eine stringente, noch stärker berührende Geschichte lesen will, die sich auf einen Hauptcharakter konzentriert, dem sei “Der Reisende” ans Herz gelegt.
von yesterday - 2019-12-05 18:26:00

Kein Titel - 5 Sterne

Die Handlung des Romans zeichnet ein dichtes Porträt einer schwierigen Zeit. Nach dem Ersten Weltkrieg befand sich Deutschland im Umbruch. Die alten Werte galten nicht mehr und obwohl – im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg – noch eine intakte Infrastruktur existierte, waren große Teile der Bevölkerung verarmt; Kriegsinvaliden, Arbeitslose und Prostituierte bestimmten in den Großstädten das Straßenbild. Die Kriminalitätsrate schnellte empor. Selbst nach der Stabilisierung der Wirtschaft ab Mitte der zwanziger Jahre nahm der Grad der sozialen Ungleichverteilung nicht ab. Hungerlöhne und ausbeutende Arbeitszeiten prägten den Alltag jener, die noch eine Stellung hatten. Die menschliche Arbeitskraft wurde durch Maschinen auf ein Mindestmaß beschränkt und hatte für die Industrie und das Handwerk erfreuliche Nebenwirkungen: Maschinen stellen keine Ansprüche und haben keinen Eigenwillen. Die politischen Parteien nutzten die Erwerbslosen nur als Hebel, wollten ihnen jedoch weiter nicht helfen. Somit lagen viele Menschen unter den Rädern des Lebens und konnten nur schwer wieder aufstehen. Der junge Berliner Autor Ulrich Alexander Boschwitz entwirft ein dichtes Sozialbild seiner Zeit und stellt jene in den Vordergrund, deren erbarmungswürdiges Leben sie zu stillen, unauffälligen Anti-Helden eines Milieus macht, in dem sie rettungslos verloren nur mehr ans Überleben denken und sich auf das existentiell Notwendige konzentrieren. Der Autor beleuchtet seine Figuren mit großer Empathie und flicht ein atmosphärisches Gewebe, das sich aus Einzelgängern speist, deren Lebenswege wie die Fäden eines Webstuhls zusammenlaufen, bis es zu einer Tragödie kommt, deren Auswirkung vom Lärm des Molochs Berlin geschluckt wird. Große Erzählkunst für die Leserschaft von Hans Fallada, Vicki Baum und Alfred Döblin.
von Sonja Kienzl - 2019-10-01 14:06:00

Berlin in den Zwanzigern - 5 Sterne



Der Schriftsteller Ulrich Alexander Boschwitz lebte von 1915 bis 1942. Sein erster Roman Der Reisende war schon ein Kunstwerk.

„Menschen neben dem Leben“ ist sein Zweiter Roman. Was hätte er noch schreiben können, wenn er nicht so früh sterben musste.
Der Klett-Cotta Verlag hat beide Romane neu aufgelegt.
Der Autor beschreibt in diesem Roma die Unterschicht Berlins. Da sind die Wohnungslosen, die Arbeitslosen und die Prostituierten. Irgendwie muss man ja überleben. Es ist sie Zeit zwischen den Weltkriegen
Die Kriminalität wächst. Er hat das Milieu gut erfasst.
Man kann so richtig miterleben, wie die Leute sich abends in den Lokalen traf, um ihren Frust zu vergessen.
Boschwitz hat sich wohl so richtig damit befasst, denn es fühlt sich echt an.
Es war eine dramatische Zeit.
Der Roman ist ganz anders als Der Reisende, aber genau so gut.


von begine - 2019-09-30 18:58:00

Bedrückende und beschämende Milieustudie - 5 Sterne


1942 torpediert ein deutsches U-Boot das britische Passagierschiff, auf dem sich der 27-jährige Ulrich Alexander Boschwitz befindet. Boschwitz wird dabei getötet. Zwei Romane sind von ihm geblieben und wurden glücklicherweise von Peter Graf herausgegeben. Unfassbar tiefen Eindruck hinterließ bei mir „Der Reisende“. Aber auch das vorliegende Buch, das Boschwitz mit 22 (!) schrieb, ließ mich in seiner Intensität erschauern. Welch ein Autor!

„Menschen neben dem Leben“ könnte keinen besseren Titel haben, denn es schildert das Berlin in den 1930er Jahren, in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, und zwar die Welt der „kleinen Leute“, des Lumpenproletariats, der Menschen, die weit weg von Varieté und ausschweifendem Nachtleben um ihr Überleben kämpfen und um jedes Stück trocken Brot betteln müssen. Für die es einem Fest gleicht, wenn sie sich nach einer ertragreichen Betteltour ein Essen in einem der zur damaligen Zeit modernen Automatenrestaurants leisten können. Wir lernen Protagonisten kennen, deren Leben sich reduziert hat auf das Stillen der Grundbedürfnisse, die aber dennoch auch von Sehnsucht nach ein paar unbeschwerten Stunden erfüllt sind. Und so finden sie sich abends immer wieder im Fröhlichen Waidmann zusammen, einer typischen Berliner Kneipe. Der blinde Sonnenberg, der am Tag Streichholzschachteln verkauft und voll innerer Wut steckt, mit seiner geistig zurückgebliebenen Frau, die so gerne in Schaufenster guckt. Oder Tönnchen, der alles verspeist, was sich nur finden lässt. Der feige Grissmann, die verrückte Frau Fliebusch, der zu lang geratene klapperdürre Fundholz - jeder der Protagonisten verkörpert ein für die damalige Zeit typisches Leben als Bettler, Kriegsheimkehrer, Prostituierte, Verrückte. Sie treffen zusammen im Fröhlichen Waidmann, und obwohl sie nichts Gemeinsames haben außer der bitteren Armut, so gelingt es dem Alkohol auf sezierende Weise, ihre wahren Persönlichkeiten zum Vorschein zu bringen. Der Roman schildert diese aus der Zeit ins Elend Geworfenen mit einer Intensität, dass man glaubt, den Geruch feuchter modriger Kellerräume nie mehr loszuwerden. Und immer wieder hatte ich beim Lesen die Zeichnungen von Heinrich Zille vor Augen.
Ein unfassbar dichter, intensiver, eindrücklicher, lange nachwirkender Roman, der mich bedrückte und beschämte gleichermaßen, denn wie schreibt der Herausgeber Peter Graf in seinem Nachwort so treffend: „… bei der Lektüre von Ulrich Alexander Boschwitz wird einem … die eigene alltägliche Gleichgültigkeit gewahr, denn man weiß von fremdem Unglück immer so viel, wie man wissen will…“

von heinoko - 2019-09-24 09:00:00

Die Weltwirtschaftskrise aus der Froschperspektive - 5 Sterne

Der Roman „Menschen neben dem Leben“ von 1937 lässt den Leser am Überlebenskampf einer Handvoll Personen am untersten Rand der Gesellschaft in der Zeit zwischen den Weltkriegen teilhaben. Allen ist der unverschuldete gesellschaftliche Absturz gemeinsam. So liegen die Ursachen dafür im Bereich der Arbeitslosigkeit, geistiger Behinderung oder Kriegsversehrtheit. Im Zentrum des Geschehens steht die Kneipe „zum fröhlichen Waidmann“, in der unter Alkoholeinfluss ein Konflikt untereinander eskaliert.

Der Roman lebt vom Umgang mit der Perspektivlosigkeit nach dem gesellschaftlichen Fall. So äußert sich die Hilflosigkeit und Frustration eines der Protagonisten in Aggressivität, während ein weiterer sich durch Übernahme von Verantwortung für den Schwächsten der Gruppe hervortut. Ein Dritter zeichnet sich durch Abkehr von der gesellschaftlichen Ethik aus, die sich darin äußert, dass er sich seinen gesellschaftlichen Platz auf illegalem Weg zurückerobern möchte.

Insgesamt gelingt es dem Autor hervorragend, in nüchternen Worten ein düsteres Gesellschaftsbild zu skizzieren, in der für die Ärmsten die Sicherstellung der elementarsten Grundbedürfnisse nicht gegeben ist und die eine so hohe Durchlässigkeit aufweist, dass ein gesellschaftlicher Absturz eine reale Bedrohung für große Bevölkerungsanteile darstellt. Faszinierend, wie der Autor die Froschperspektive dazu benutzt, die Gesellschaft zu sezieren. Dass das Buch von einem Zeitzeugen verfasst wurde, erhöht die Authentizität und ermöglicht mir als Leser, tief in eine vergangene Zeit und ins Proletariat einzutauchen. Auch fällt mir positiv auf, dass die Protagonisten sämtlich komplex sind, ohne Stereotype zu bemühen. Unterhaltsam, mit welch leisem Spott der Erzähler bisweilen auf die Akteure blickt. Ich möchte die Lektüre des Romans uneingeschränkt empfehlen!
von bibuschka - 2019-09-19 11:33:00

Unter den Rädern des Lebens - 5 Sterne

Die Kneipe "Der fröhliche Waidmann" ist eine Oase der Gestrandeten, der Verlierer und Obdachlosen, der am Rand der Gesellschaft lebenden Menschen. Sie tragen die Auswirkungen der Elendsjahre nach Ende des ersten Weltkrieges und sind unter die Räder des Lebens geraten. Vielfach geprügelt von der Not, kollidieren sie immer wieder mit den Anforderungen des Alltags. Um nicht allein zu sein und sich ein wenig abzulenken, suchen sie die billige Geselligkeit. Alkohol ist allgegenwärtig, im Hintergrund lauert stets die Gewalt.
Der Autor skizziert den bisherigen Lebenslauf der tragenden Figuren und gibt Einblick in ihre spezielle Lage. Er greift zwei Tage heraus, die besser als jeder Geschichtsunterricht deutlich machen, wie so viele Arbeitslose und Bettler (in Deutschland und bestimmt auch in weiten Teilen Europas) ums Überleben kämpfen mussten. Er schildert die einzelnen Episoden keineswegs larmoyant, sondern nüchtern und objektiv. Gerade dadurch hatte ich Mitleid mit diesen Menschen.
In fast heiterem, leichtem Ton erzählt Boschwitz von dieser Subkultur, in der sich Trägheit und Explosion nebeneinander bewegen. Ihm selbst werden die geschilderten Situationen nicht gänzlich fremd gewesen zu sein, musste er doch selbst emigrieren. So sind auch weite Teile des Textes den Betrachtungen über die menschliche Psyche gewidmet, besonders nach Niederlagen und in Konfliktsituationen. Daneben gefiel mir besonders die Art, wie die Geräusche der Strasse in Worte gefasst werden, zum Beispiel: "Leise meckerten die Klingeln der Fahrräder." Das dürfte in der Literatur nicht oft vorkommen.
Der Titel allerdings könnte besser gewählt sein, denn neben dem Leben befinden sich die Protagonisten keineswegs. Für sie ist es DAS LEBEN. Es sieht auch heute noch für viele ganz ähnlich aus, denn Leben ist nicht gleich Wohlstand. Nur widmet ihnen – seit Erich Kästner, Irmgard Keun und Hans Fallada – kaum ein Autor mehr als ein paar Worte.
von Emmmbeee - 2019-09-14 10:51:00

ergreifend - 5 Sterne

Dieses Buch erzählt die Geschichten unterschiedlicher Menschen der Stadt Berlin Anfang der 30er Jahre. Sie sind alle aus verschiedenem Hause und haben unterschiedliche Ziele im Leben, doch was sie verbindet ist, dass sie ganz unten im Leben angekommen sind. Sie sind Bettler, Prostituierte und Arbeitslose, die sich Tag für Tag durch die Stadt und ums Überleben kämpfen. Hauptfiguren sind der Bettler Fundholz und sein geistig beeinträchtigter Begleiter Tönnchen. Beide versuchen sich mit ihrem Elend abzufinden und versuchen so gut wie es geht über die Runden zu kommen. Das Buch hat mich von Anfang an in seinen Bann gezogen, da es absolut realistisch die Schicksale der Menschen zu dieser Zeit beschreibt und einen sehr lebendigen Einblick in die Geschichte gibt.
von inya - 2019-09-05 11:55:00