Rezensionen

Lichtungen Roman. 13.01.2024. Hardback.
Roman

Autor: Wolff, Iris

Erschienen 2024 bei Klett
ISBN 978-3-608-98770-6
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Nur einzelne Lichtungen in all der Dunkelheit - 2 Sterne

Für Iris Wolffs Roman "Lichtungen" habe ich mich mal wieder viel zu schnell von anderen begeistern und beeinflussen lassen, denn eigentlich merkte ich bereits bei "Die Unschärfe der Welt" dass ihr Schreibstil und die Aneinanderreihung von Gedanken bei mir nicht das auslösen, was andere dabei empfinden. Und so hatte ich dann auch recht schnell mit "Lichtungen" so meine Probleme. Die vordergründig thematisierte Freundschaft zwischen Lev und Keto, die seit Kindertagen besteht und sie nun über die Grenzen hinaus durch Europa begleitet, die Straßenkunst und die Begeisterung füreinander hatten es mir gerade in den ersten Kapiteln besonders angetan. Doch durch Wolffs Aufbau und die Art der Rückwärtserzählung, musste ich bald feststellen, dass eben jene Szenen die ersten und letzten ihrer Art sein werden.

"In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie alleine."

... sind vielleicht die treffendsten Zeilen die diesen Roman beschreiben. Diese Geschichte lebt von den gemeinsamen Erinnerungen, von den Lichtblicken und Gedankensplittern, von kurz aufblitzenden Ereignissen der Geschichte, wie das Unglück in Tschernobyl, die beim Lesen weitere Erinnerungen hervorrufen und eine zeitliche Einordnung ermöglichen.
Gerne denke ich an diesen Moment zurück, als Kato, begleitet von einem goldfarbenen Pantomimen, ein Bild auf die Straße malt und Lev sie dabei beobachtet und die Kunst eine ganz neue Perspektive gewinnt, fast schon eine Verbindung zwischen Künstlerin, Straße und dem normalen Leben eingeht. Alles andere drum herum verwischt, bis auf ein paar Postkartenmomente und Umschreibungen. Die Rückwärtserzählung machte es noch zusätzlich schwieriger für mich einen gewissen Lesefluss aufrecht zu erhalten. Nach jedem Kapitel ein Neuanfang, ein weiterer losgelöster Moment, wenn man so will, in ihrer beider Geschichte.

"Die Kunst war ein Spiel zwischen Zeigen und Verbergen. Das Leben auch? Es gab das Sichtbare und das Unsichtbare, und nur das Wenigste kam überhaupt ans Licht. Manches konnte man in sich verstecken, bis man vergaß, dass es einmal gewesen war. Anderes nicht."

Und diese Kunst beherrscht Wolff wirklich gut. Viele wohlklingende Sätze und 'Lichtungen' reihen sich aneinander und doch hatte ich stets das Gefühl die Geschichte kaum greifen zu können, Wesentliches nicht zu wissen bzw. dieses Wesentliche mir erst mühsam erarbeiten zu müssen. Und da verlor sich meine Begeisterung. Auch der große Aha-Moment blieb für mich aus, einzig ein irgendwie wärmendes Gefühl zwischen all dem Beschriebenen blieb zurück. Man frage mich nicht, was genau ich gelesen habe oder ob ich die Geschichte wirklich verstanden habe. Ich würde sagen, einzelne Erinnerungen sind noch da, alles andere liegt schon wieder im Dunkeln verborgen und das finde ich dann sehr schade, zumindest hatte ich mir mehr erhofft.
von herrfabel - 2024-03-25 01:53:00

Ein tolles Buch - 4 Sterne

Iris Wolff hat in diesem leisen, unaufgeregten und sehr tiefsinnigen Roman gleich mehrere Themen wunderbar miteinander verknüpft.

Vergangenheitsbeweltigung, die Suche nach sich selbst und nach der Zukunft sowie das Streben nach Individualismus und Freiheit. Kato und Lev haben eine Art Verbindung die immer wieder auf die Probe gestellt wird. Nichts vermag jedoch ihre Verbindung jemals ganz zu lösen. Die freigeistige Kato und der eher Stille Lev ergänzen sich in meinen Augen wirklich hervorragend und ihre Verbindung ist wirklich sehr besonders. Immer wieder scheint sie vermeintlich zu zerreißen doch nie endet sie ganz. Dieses Gefühl der Verlässlichkeit trägt sie durch die Jahre und hat mich wirklich sehr beeindruckt. Diese Kontinuität der sich immer wieder annähernden und sich wieder voneinander entfernenden Protagonisten war wirklich sehr gut, komplex und toll geschildert.
von Katharina Grassmugg - 2024-03-10 11:57:00

Lichtungen - 5 Sterne

„Lichtungen“ lautet der Titel des neuen Romans der deutschen Schriftstellerin Iris Wolff, die selbst im rumänischen Siebenbürgen aufgewachsen ist. Die Autorin reflektiert darin über den ehemals kommunistischen Vielvölkerstaat Rumänien und über das Schicksal der Menschen, das sich durch die Öffnung der europäischen Grenzen verändert hat. Im Mittelpunkt stehen Lev und Kato, zwei Freunde, die unterschiedliche Lebensentwürfe haben, aber doch eine ganz eigene Verbindung spüren, die jenseits von Herkunft und Orientierung aufrecht bleibt. Während Kato beschließt, in den Westen aufzubrechen, bleibt Lev seiner Heimat verhaftet. So gelingt es Iris Wolff, geschickt politische und historische Bilder mit dem Leben der Protagonisten zu verweben: Wir erfahren, was Migration bedeutet, aber auch, wie gemeinsame Kindheitserinnerungen die Ausrichtung der eigenen Biographie bestimmen können. Interessant finde ich, dass das Buch rückwärts erzählt wird: Es beginnt bei Kapitel neun und endet bei Kapitel eins: die umgekehrte Chronologie lässt uns von der Gegenwart in die Vergangenheit schauen und wir erfahren, wie Lev, Sohn einer rumänisch-deutschen Familie, als Kind von Kato, seiner damaligen Schulkameradin, gepflegt wurde – der Beginn einer intensiven Freundschaft, an die er sich später, nach der rumänischen Revolution von 1989 und dem Fall der Ceausescu-Diktatur, erinnert: Erinnerungen sind „Lichtungen“, erklärt Iris Wolff in ihrer unvergleichlichen Poesie: „In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auf bemühte, es tauschte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig. Womit hatte er die letzten Jahre verbracht?“ Allein dieser kurze Ausschnitt aus dem Text zeigt, welchen Sog die Erzählung zu entwickeln vermag: Gerne folgen wir den Erinnerungen von Lev, um selbst in der uns eigenen Biographie „Lichtungen“ zu entdecken: ein „Früher“, welches das „Heute“ prägt. Die Erfahrung einer „fremden Existenz in der eigenen Heimat“, wie Iris Wolff das Leben der beiden beschreibt, mag nicht auf uns alle in gleichem Maße zutreffen, aber der zarte Widerstand, der im Roman selbst liegt – Widerstand gegen Diktatur und Freiheitsbeschränkung – ermutigt uns zur Spurensuche: Während wir Lev folgen, der sich auf die Suche nach Kato macht, werden wir vielleicht auch jemandem begegnen, der schon immer auf uns gewartet hat und uns bange fragt: „Wann kommst du?“ – Denn so lautet die Nachricht, die Kato ihm unverhofft nach vielen Jahren schreibt. Lev bricht in den Westen, nach Zürich, auf und wird dabei von seinen Erinnerungen begleitet: So denkt er an den Tag, als Kato ihm ihren Hausschlüssel in die Hand drückte und er sie noch bat: „,Schreib mir Postkarten aus jedem Land.‘ – ,Versprochen,‘ sagte sie leise.“ Lev, der nach dem Umbruch von 1989 in Rumänien geblieben war, durchlebt in seiner Erinnerung die Veränderung der politischen und damit geschichtlich-existentiellen Situation der Menschen. Kann man sich aus der Erinnerung lösen, wenn diese eine „Lichtung“ bedeutet, die den Weg für die Zukunft weist?

Der Roman ist ein faszinierendes Lese-Erlebnis, das uns durch die ebenso präzise wie poetische Sprache der Autorin geschenkt wird. Sie erzählt ihre Geschichte, wie im Roman die Großmutter Bunica ihre Geschichten zu erzählen weiß: „War etwas gesagt, konnte sie es loslassen. Es lag nicht mehr in ihrer Hand.“ Ist etwas gesagt, vertraut Iris Wolff dem Lesenden – sie kann es loslassen, während die Bilder in uns arbeiten: die Landschaft von Siebenbürgen, das Gefühl im eigenen Leib beim Lesen: das subjektiv Gespürte, das wachsam werden lässt für die vielen, im Text verstreuten feinen Details, die in der Erinnerung wie „Lichtungen“ aufblitzen … Nach der Lektüre haben wir Freunde gewonnen: Lev und Kato, die mehr sind als nur Protagonisten; sie stehen auch als Parabel, wie die Überschrift zu Kapitel Acht sagt: „Ich bin das Zeichen der Reise. Unbewegt.“ (Aus dem Gedicht Delphine“ von Adam Zagajewski).
von Katja Hölzl - 2024-03-01 14:58:30

Tiefsinnig und berührend - 4 Sterne

Das Buch hat einen angenehmen und ruhigen Stil, welcher die ganz besondere Stimmung des Romans unterstreicht. Die Geschichte wird rückwärts erzählt, wodurch eine eigene Dynamik erzeugt wird. Ich finde es sehr spannend, wenn man erst im Nachhinein erfährt, wieso sich gewisse Situationen ergeben haben bzw. wodurch diese hervorgerufen wurden.

Die Charaktere Lev und Kato waren mir bereits nach den ersten Seiten sehr sympathisch und vor allem Lev wird in weiterer Folge sehr tiefgründig vorgestellt.

Dem Roman gelingt es auf sehr feine Weise die Atmosphäre in Rumänien in den 80iger und 90iger Jahren darzustellen und zeigt auch die verschiedenen Herausforderungen, welche die Zeiten mit sich bringen.

In Summe ein nachdenklicher, tiefgründiger Roman über Freundschaft, Liebe und die Wirrungen des Lebens, sowie über das Dableiben, Weggehen und Zurückkommen. Von mir eine klare Leseempfehlung.
von Michaela - 2024-02-29 20:52:00

Wie werden wir zu dem, wer wir sind? - 5 Sterne

Die großartige erzählte Lebens- und Liebesgeschichte von Lev und Kato wird quasi von hinten aufgerollt: Das Buch beginnt mit einem „Ja!“ auf eine entscheidende Frage in der Gegenwart und führt kapitelweise zurück in Levs und Katos und Kindheit. Von Kindheit an verbunden, trennen sich die Wege der beidenals Heranwachsende: Lev bleibt in seiner Heimat in Siebenbürgen; Kato macht sich als junge Frau auf den Weg, verlässt ihn und ihr Dorf.

Durch diese ungewöhnliche Erzählweise wird überzeugend beschrieben, wie es zu dem Punkt gekommen ist, an dem sich die beiden zu Beginn des Romans befinden.

Eine einfühlsam erzählte Liebesgeschichte mit wunderbaren Naturbeschreibungen und einer wunderschönen literarischen Sprache vor dem Hintergrund Rumäniens, das ich allen Leser*innen von Herzen empfehlen möchte!
von Ina - 2024-02-27 05:28:31

"Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender" - Ein ganz besonderes Buch, erzählt in einer ganz zärtliche Sprache - 5 Sterne

„Lichtungen“ von Iris Wolff ist ein wunderbarer Roman, zart, poetisch und herausfordernd zugleich.

Durch einzelne Episoden lernen wir die Protagonisten Lev und Kato kennen. Die Geschichte beginnt in der Gegenwart, Kato trifft im Westen wieder Lev, nachdem sie mehrere Jahre getrennt waren. Ihnen verbindet eine sehr lange Freundschaft.

Die Geschichte wird rückwärts erzählt und auch die Kapitel sind umgekehrt nummeriert. Wir lernen Lev und Kato besser kennen, verstehen langsam ihre Beziehung und erleben die Atmosphäre Siebenbürgens/Rumäniens in den 80er und 90er Jahren.

Lev stammt aus einer ethnisch gemischten Familie mit deutschen und rumänischen Wurzeln. Doch er fühlt sich seinem Wohnort verbunden und möchte das Land nicht verlassen, auch wenn es andere überrascht. Kato, die schon immer eine Außenseiterin war, braucht mehr Freiheit und verlässt Rumänien so schnell wie möglich. Lev und Kato bleiben weiterhin über Postkarten in Kontakt. Bis Kato eines Tages Lev in einer Postkarte fragt, wann er kommt.

Iris Wolff erzählt die Geschichte poetisch, bildgewaltig und sehr einfühlsam. Um die besondere Atmosphäre zu schaffen, verwendet die Autorin viele Metaphern. Sehr viele Szenen werden treu genau beschrieben, manche werden nur angedeutet. Die Metaphern unterstützen das Geschehen im Buch sehr gut und geben das Gefühl, dass man alles miterleben darf.

Das Buch lässt sich in drei Hauptabschnitte unterteilen. Im ersten Abschnitt treffen wir Lev und Kato und es wird mehr über die Gegenwart erzählt. Im zweiten Abschnitt konzentriert sich die Autorin stärker auf das Leben unter dem Ceaușescu-Regime. Das Leben war nicht einfach, je älter man war, desto mehr Erfahrung hatte man. Es werden viele Dinge erwähnt, die einen großen Einfluss auf Rumänien hatten, Tschernobyl, Militärdienst, Forstarbeiten, die Kontrolle von Menschen in grauen Anzügen, die Notwendigkeit, sich von bestimmten Menschen fernzuhalten, um nicht selber unter Kontrolle zu geraten, usw. Der dritte und letzte Abschnitt beantwortet viele Fragen und klärt viele Hintergründe auf. Am Ende wird noch viel mehr über Lev erzählt.

Wenn ich zuerst dachte, es wäre ein Buch über Lev und Kato und ihre Freundschaft, wurde mir klar, dass es sich tatsächlich um ein Buch über Lev, Zugehörigkeit und die vielen Verluste handelt, die ein Mensch in einem Leben erleiden kann, und ein Buch über das, was uns Menschen am Leben halten kann.

Es gibt auch viele interessante Nebencharaktere im Buch.

Meiner Meinung nach ist Bunica eine typische Figur aus Ceausescus Rumänien. Man ist ruhig und lernt ständig, in einer Welt zu leben, in der man selten die Wahrheit erfährt. Die Wahrheit und der Stand der Dinge werden immer erst am eigenen Leib erfahren. Bunica hat viel erlebt und weiß viel mehr als man denkt. Das Leben unter Ceaușescus Regime war nicht einfach. Bunica weiß jetzt, mit welchen Menschen man den Kontakt meiden sollte, und sie weiß auch, dass man ständig überwacht wird – all das zu wissen, war eigentlich während des Ceaușescu-Regimes eine Voraussetzung. Bunica kennt die richtige Antworten und bringt Lev das auch bei.

Ferry ist eine weitere Nebenfigur, der mehr Tiefe verliehen wird. Er fühlt sich wegen Levs Unfall schuldig und ist deshalb nicht mehr so ​​präsent in Levs Leben. Ferry möchte Rumänien verlassen, weil er das Gefühl hat, woanders hinzugehören. Leider erfährt er, wie schwierig es ist, Rumänien auf einem legalen Weg zu verlassen.

Der Schreibstil ist poetisch und bildhaft, man sieht unvergessliche Bilder, die in einfachen Worten beschrieben wurden. Und doch ist das Buch insgesamt herausfordernd. Die Geschichte wird rückwärts und in einzelnen Episoden erzählt, die wie kleine Lichtungen wirken und uns immer mehr Einblick in das Leben im Rumänien der 80er und 90er Jahre geben, wo wir eine Handvoll Charaktere kennenlernen.

Dieses Buch ist keine leichte Lektüre. Durch die vielen Metaphern und das rückwärts Erzählen ist das Buch etwa anspruchsvoll aber vielleicht das ist was dem Buch viel mehr Wert gibt. Mit einer poetische und sehr zärtliche Sprache erzählt die Autorin über Gefühle wie Zugehörigkeit, Familie, Freundschaft, Verluste und das Leben selbst. Ein Buch, das sich ganz bestimmt lohnt, gelesen zu werden.
von NicoB - 2024-02-12 15:38:00

Eine leise, aber intensive Geschichte - 5 Sterne



Mit ihrem fünften Roman ist der 1977 in Hermannstadt in Siebenbürgen geborenen Autorin wieder ein großer Wurf gelungen. Obwohl sie schon seit 1985 in Deutschland lebt, siedelt sie ihre Geschichten im Land ihrer Kindheit an , im Banat und in Siebenbürgen.
Erzählt wird hier die Geschichte von Lev und Kato. Eine innige Freundschaft besteht seit Kindheitstagen zwischen ihnen. Mit elf Jahren war Lev wegen einer rätselhaften Lähmung seiner Beine wochenlang ans Bett gefesselt und Kato brachte ihm täglich die Hausaufgaben.
Aufgewachsen sind sie im Maramuresch, einer ländlichen, waldreichen Gegend im Norden Rumäniens, Kato ohne Mutter und mit einem trinkenden Vater und Lev ohne Vater. Der kam bei einem Bergrutsch ums Leben, als Lev gerade mal fünf Jahre alt war .
Es ist eine Kindheit und Jugend im Rumänien unter Ceausescu. Viele träumen vom Weggehen, von einem Leben in Freiheit. Und als 1989 endlich der Eiserne Vorhang fällt, ergreift Kato die nächstbeste Möglichkeit zum Aufbruch in den Westen. Doch der Kontakt zwischen den beiden reißt nicht ab. Aus jedem Land, in dem sie einige Zeit wohnt und sich ihren Lebensunterhalt durch Straßenmalerei verdient, schickt sie Lev eine selbstgemalte Postkarte. Und als sie ihn nach fünf Jahren fragt „ Wann kommst du?“ , da macht sich Lev auf nach Zürich. Nach einigen Wochen quer durch Europa, kehren sie gemeinsam nach Rumänien zurück.
Für ihre Geschichte hat Iris Wolff eine ungewöhnliche Erzählweise gewählt: Sie erzählt sie rückwärts, d.h. sie beginnt mit Kapitel „ Neun“ und endet mit Kapitel „ Eins“. Dabei wählt sie entscheidende Episoden aus, Geschehnisse, zwischen denen jeweils einige Jahre liegen. Das sorgt für Spannung beim Leser und erfordert einiges Mitdenken. Dabei wird erfreulicherweise längst nicht alles auserzählt, sondern Iris Wolff lässt Leerstellen und vertraut dem Leser.
Nach und nach gewinnen so die einzelnen Figuren Konturen, Verbindungen und Beziehungen zwischen ihnen werden hergestellt und es wird verständlich, was sie zu denen werden ließ, die sie sind. So sind nicht nur die Unterschiede im Charakter - da die unerschrockene und freiheitsliebende Kato, hier der sensible und zögerliche Lev - maßgeblich für ihr Verhalten. Im Verlaufe der Lektüre wird deutlich, was Lev geprägt hat, warum er nach Liebe und Beständigkeit sucht, musste er doch schon früh traumatische Verluste erleben.
Themen wie Freundschaft und Liebe und die fließenden Grenzen davon werden in Variationen durchgespielt, ebenso wie Fragen nach Herkunft, Wurzeln und Identität.
Im Vielvölkerstaat Rumänien finden sich verschiedene Volksgruppen, Sprachen und Kulturen, die im Verlaufe der Geschichte neben- und miteinander existiert haben. So hat sich Levs Großvater Ferry irgendwann dafür entschieden , Österreicher zu sein. „ Er sei als Österreicher in dieses Jahrhundert gestartet und, obwohl er sich geographisch nicht vom Fleck bewegt hatte, Rumäne geworden, dann Ungar“ und nun weist ihn sein Pass wieder als Rumäne aus. Doch jahrelanges vergebliches Warten auf die Ausreisepapiere lassen ihn die Flucht über die grüne Grenze nach Wien antreten. Aber ist er nun dort angekommen, wo er hingehört? Diese Frage muss Ferry verneinen. „ Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender.“
Lev dagegen, mit einer siebenbürgischen Mutter, einem rumänischen Vater und einem Großvater mit österreichischen Vorfahren, verweigert sich einer Einordnung und Vereinnahmung.
Die große Geschichte wird an vielen kleinen Details aufgezeigt und spiegelt sich im Schicksal der Protagonisten.
So beschreibt die Autorin anschaulich das Klima von Lähmung und Misstrauen während der Diktatur und welche Auswirkungen auf Menschen und Landschaften die Öffnung des Eisernen Vorhangs hatten. Während die einen nichts mit der so sehnlichst erhofften Freiheit anfangen konnten, beginnt der Exodus der anderen. Verwaiste Dörfer, verfallene Kirchen, heruntergekommene Wohnblocks und stillgelegte Fabriken zeugen davon.
Nicht nur mit ihrer Sprachmacht überzeugt Iris Wolff. Sie beschwört Landschaften und Stimmungen, schafft Atmosphäre und Bilder, die in Erinnerung bleiben, ist gleichzeitig präzise und poetisch. Sprache selbst wird auch von ihr thematisiert. In der Schweiz begreift Lev „ Seine Herkunft war in seinem Akzent, war ihm eingenäht in Kleidung und Schuhe.“ Und das vertraute Rumänisch zwischen Lev und Kato weckt Erinnerungen an früher.
Die Reflexionen über Erinnerungen führen zu den titelgebenden „ Lichtungen“. „ Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens,…Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.“
„ Lichtungen“ ist eine leise, aber intensive Geschichte, mit seiner ungewöhnlichen Struktur und seiner besonderen Sprache von hohem literarischen Niveau. Ein wunderbares Buch, das unbedingt einer Zweitlektüre bedarf. Ob man dann von hinten beginnen möchte und die Geschichte chronologisch aufrollen will oder ob man die gewählte Erzählform beibehält und sie nun mit dem gewonnenen Wissen intensiver liest, steht jedem frei. Auf jeden Fall ist „ Lichtungen“ ein Roman, der viel Stoff zur Reflexion bietet und sich somit bestens für Lesekreise eignet.
von Ruth - 2024-02-01 18:57:00

Wo Licht ist, ist auch Schatten - 2 Sterne

Lichtungen von Iris Wolff hat mich aufgrund des Klappentextes direkt angesprochen, dieser thematisiert eine tiefe Freundschaft, die im größten Leid entstanden ist, aber scheinbar etwas magisches besitzt. Daher war meine Hoffnung, dass ich die Magie dieser Freundschaft und über ein Band das keine Grenzen kennt, erfahren werde.

Diese Anmerkung lässt bereits erahnen, dass Lichtungen meine Hoffnungen nicht erfüllen konnte. Woran das lag? Vielleicht daran, dass wir die Geschichte rückwärts erzählt bekommen und der Fokus für mich dadurch nicht auf die innige Freundschaft zwischen Lev und Kato gerückt wurde, sondern vor allem auf die Abwesenheit von Kato und wird dadurch hauptsächlich die Geschichte von Lev erzählt bekommen.

Der Stil, die Geschichte rückwärts zu erzählen, war durchaus innovativ und Iris Wolffs blumig-poetischer Schreibstil war wundervoll. Doch zusammen hat es für mich einfach nicht gepasst, um mit den Protagonisten (bzw. vorwiegend Lev) mitfühlen zu können. Ich blieb durchgehend distanziert und hatte zu Beginn sogar einige Probleme Lev und Kato auseinanderzuhalten.

Alles in allem war Lichtungen daher leider nicht das, was ich erwartet hatte. Dennoch bin ich mir sicher, dass vor allem der tolle Schreibstil der Autorin einige Leser begeistern und man mit einer anderen Erwartung, ein wunderschönes Leseerlebnis haben wird.
von Anndlich - 2024-01-24 10:14:00

Genussvoll poetisch - 5 Sterne

In "Lichtungen" geht es um die Freundschaft zwischen Karo und Lev. Zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten, die sich schicksalhaft kennenlernen und daran wachsen, sich halt geben. Kato reist durch Europa und schickt Lev eine ganz besonders Postkarte nach Rumänien.

Der lebendige Schreibstil ist genussvoll, beinahe poetisch, zeichnet ein eindrucksvolles Bild der Momente, auch wenn ich mich erst daran gewöhnen musste, mein Tempo runterzufahren. Auch die Erzählweise ist außergewöhnlich interessant. Neun Kapitel, die rückwärts erzählt, erlebt und verstanden werden. Beides passt zu der berührenden Freundschaft, die beinahe leicht daherkommt, obwohl sie so emotional und zart ist. Wie der Titel vermuten lässt, zeichnen sich helle Momente ab, wo man Schatten vermuten könnte. Ich habe Lichtungen sehr genossen und mochte, welche Gedanken mir dabei kamen. Leseempfehlung!
von La Calavera Catrina - 2024-01-19 18:11:00

Sprachmagie vom Feinsten - 5 Sterne

Lange erwartet, heiß ersehnt, die Erwartungen hoch … und wurden erfüllt. Voll und ganz. Iris Wolff übt auf ihre Leserschaft eine ganz besondere Sprachmagie aus. Sie schafft es mit ruhigen Worten ihre beschriebene Welt derart darzustellen, als wäre man mitten drin. Ihre Protagonist:innen erwachen zum Leben, man begleitet sie, als wären es reale Personen, welchen man auf Schritt und Tritt folgt.
Auch die Chronologie der Erzählung ist hier sehr besonders. Sie beginnt in der Gegenwart und tastet sich mit jedem der neun Kapitel in die Vergangenheit. Die Kapitel selbst beginnen mit einem ausgewählten Zitat in der Originalsprache (mit Übersetzung im Anhang).
Lev und Kato kennen sich von Kindheit an. Es entwickelt sich eine innige Freundschaft, zuerst wider ihrer beider Willen, die die Jahre und spätere geographische Trennung überdauert.
Die Handlungen spielen hauptsächlich in Rumänien, im Banat und in Siebenbürgen, statt. Land und Leute sind geprägt von dem Regime, erdulden und erleiden es bis zu dessen Ende. Sie bleiben das, was sie sind, sprechen Deutsch in ihrer ausländischen Heimat. Der Wunsch, der Diktatur zu entfliehen in den gelobten Westen ist omnipräsent. Aber wehe die Mauern fallen, dann scheint sich eine andere Art von Ohnmacht einzuschleichen.
Mit viel Feingefühl zeichnet Wolff ihre Figuren, ihre Rituale und Lebensumstände. Der Fall des Regimes in Rumänien verändert vieles, auch die Beziehung zu Lev und Kato. Während Levs Großvater die Flucht nach Wien schon früher gelang (und sich als Vielvölkermischling sieht), nutzte Kato erst nach dem Öffnen der Grenzen die Möglichkeit, um „zu verschwinden“. Mit dem Fahrradtouristen Tom machte sie sich auf und davon. Sehr zum Leidwesen von Lev. Dieser verharrte an Ort und Stelle, verfiel in eine Art nostalgische Melancholie. Erst eine Aufforderung von Kato, sie in Zürich zu besuchen, löste ihn von seiner Ortsverbundenheit.
Viel mehr kann und will ich über den Inhalt nicht verraten, jedes erwähnte Detail wäre zu viel. Also selber lesen, denn es lohnt sich allemal. Ganz große Leseempfehlung für diesen wirklich sehr gelungenen Roman. Sprachpoesie vom Feinsten.
von MarcoL - 2024-01-15 16:22:00