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ruh
Roman | Die literarische Neuentdeckung

Autor: Dost, Sehnaz

Erschienen 2024 bei Ecco Verlag
ISBN 978-3-7530-0100-5
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Eine Suche - 4 Sterne

Eigentlich heißt "ruh" Seele, aber die Assoziation "Ruhe" passt genauso gut zu diesem Roman. Nicht, weil nichts passiert oder es langweilig wäre, im Gegenteil, Cemals Leben und sein ganzes Inneres sind von Unruhe und Rastlosigkeit geprägt. Trotzdem erfasst einen beim Lesen diese typische Ruhe, die einen in die Geschichte eintauchen und alles rundherum vergessen lässt.

Die ersten 8 Lebensjahre ist Cemal bei seinen Großeltern in einem kleinen Dorf in der Südtürkei aufgewachsen. Dann plötzlich der Umzug nach Deutschland, eine neue Sprache, neue Kultur, seine eigene Familie, die ihm fremd ist. Heute ist Cemal Ende 30 und unterrichtet Deutsch an einer Grundschule, seine kleine Tochter Ekin ist alles für ihn. Er arrangiert sein Leben zwischen ihr und Georg, mit dem er seit einer Weile eine Affäre hat. Doch nun will Georg die nächsten Schritte gehen, und Cemal hat Angst davor, ihn in sein Leben mit Ekin zu lassen. Außerdem träumt er seit kurzem von seiner verstorbenen Urgroßmutter Süveyde, die er nie gekannt hat und die ihm nach und nach die Welt ihrer Jugend zeigt und ihn mitnimmt an all die Orte, die ihm aus seiner eigenen Kindheit noch so vertraut sind. Neben dem manchmal mehr und manchmal weniger unterschwelligen Rassismus sind nun auch die Träume Süveydes Teil von Cemals Alltag, in dem er versucht, endlich einen Weg hinaus aus seiner anerzogenen Sprachlosigkeit zu finden. Die Suche nach seinen Wurzeln und nach Beständigkeit und gleichzeitig die Angst und Unfähigkeit, irgendwo länger zu verharren, sind Dinge, die Cemal umtreiben.

Der Roman reißt mit. Die recht kurzen Kapitel, die dazu verleiten, ständig "nur noch eins!" mehr zu lesen, die Sprache, die Thematik, all das packt und man bekommt kaum mit, in welcher Geschwindigkeit man durch die Seiten fliegt. Cemals Geschichte macht wütend und frustriert, ist aber zugleich von riesiger Verletzlichkeit und Zartheit geprägt. Eine große Leseempfehlung für diesen schönen, feinfühligen Roman!
von Anna625 - 2024-03-23 09:22:00

Türkischkenntnisse erforderlich - 3 Sterne

Im vergangenen Jahrhundert wanderten im deutschen Raum zuerst die Südtiroler und Italiener ein, später die Griechen, um die Immigrationsbewegungen mal kurz zu fassen. Und wenn gegen Ende des Jahrtausends vor dem Balkankrieg die Kroaten, Bosnier und Serben zu uns flüchteten, suchten teils schon vor ihnen Menschen aus der Türkei bei uns bessere Verdienstmöglichkeiten.
Inzwischen sind die meisten bestens integriert und ins Kulturleben eingebunden, doch wird es ihnen bis heute nicht leicht gemacht. Rassismus lässt sich besonders von konservativ Eingestellten nur schwer überwinden. Das spürt auch der Deutschlehrer Cemal, von seiner Frau getrennt lebend mit einer entzückenden kleinen Tochter und in einer wackligen Beziehung zu Georg.
Immer wieder geistern in Rückblicken die Vorfahren durch seine Gedanken und durchdringen seine Seelenruhe. Dazu der Alltag als Lehrer, Vater und Geliebten eines Mannes, der die Beziehung vertiefen will, was Cemal aus dem Gleichgewicht bringt und seine Seele durchbeutelt.
Mich hat beeindruckt, mit welcher Sprachkraft Sehnaz Dost die Situationen in der Diaspora schildert und uns Lesern auch Cemals Erinnerungen an seine Kindheit in der Türkei nahebringt. Der Spannungsbogen hält sich etwas in Grenzen, ist vielleicht auch gar nicht unbedingt nötig. Doch die Farben, die Lebendigkeit, der Erzählfluss machen das Lesen zur Freude.
Am Schluss wird ein Familienstammbaum angeführt, ebenso eine genaue Liste der Musiktitel in den einzelnen Teilen. Für mich jedoch fehlt etwas Wichtiges: ein Vokabularium, denn türkische Ausdrücke finden sich auf fast jeder Seite. Einzelne Speisen und Bezeichnungen kann man ja nachschlagen, aber nicht ganze Sätze oder gar, wie treffend ein Vorname von den Eltern ausgewählt wurde. Schade! Eine ausschließlich türkische Leserschaft kann doch kaum die Absicht der Autorin gewesen sein. Deutschsprachige jedoch stehen häufig vor einem Rätsel.
Das Cover sieht zwar recht hübsch aus, ist aber zu neutral-bunt und hebt mich nicht gerade aus den Socken. Ich empfehle den Roman solchen Lesern, die zumindest Grundkenntnisse der türkischen Sprache haben.
von Emmmbeee - 2024-02-22 19:52:00