Rezensionen

Dunkelzeit

Autor: Erin Flanagan

Erschienen 2023 bei Atrium Verlag
ISBN 978-3-85535-145-9
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Fesselnde Milieuschilderung aus dem Herzland der USA - 5 Sterne

Das erste Wochenende der Hirschsaison – Titel des englischen Originals „Deer Season“ - in Gunthrum, Nebraska, 1985 und Alma Costagans geistig behinderter Landarbeiter Hal Bullard ist mit seinen Freunden Larry und Sam - laut Alma zwei nichtsnutzige Kerle - auf die Jagd gegangen. Doch Hal fährt frühzeitig zurück, mit einer Hirschkuh auf seinem Pickup und ergibt vor, diese selbst erlegt zu haben.

Am selben Wochenende wird Peggy, ein 17jähriges Mädchen vermisst. Hal kehrt mit einer fadenscheinigen Geschichte über das Blut in seinem Truck und Beschädigungen auf die Farm der Costagans zurück. Alma und ihr Mann Clyle müssen sich damit auseinandersetzen, wozu Hal fähig sein könnte, zumal sich Hal an besagtem Tag im OK total betrunken hat und an nichts mehr erinnern kann. Es kommt heraus, dass Peggy und Hal gleichzeitig auf der Partylocation Castle Farm gesehen wurde. Nicht nur das Kaff Gunthrum ist beschissen, sondern auch deren Bewohner. „Ein Dorf sucht seinen Mörder“ (Film 2002), nein dieses Dorf hat seinen Mörder bereits gefunden: Hal. Obwohl nichts über das Schicksal von Peggy bekannt ist, haben sich die Bewohner von Gunthrum bereits auf ihn als Täter eingeschossen. Selbst seine Mutter, die den damals zweijährigen Hal fast ersaufen hat lassen, hält ihn für besonders gewalttätig und die „richtigen“ Gene hätte er ebenfalls, denn sein Vater saß schon im Gefängnis. Hat Hal etwas mit dem Verschwinden Peggys zu tun? Hal ist zwar ein fescher Bursche, geistig in der Entwicklung zurückgeblieben, aber sobald er den Mund aufmacht laufen die Mädels kreischend davon.

Peggy hatte einst aus Langeweile mit Hal bei einem Picknick flirtet, ihn aber abblitzen lassen, doch er hatte sich in sie unsterblich verliebt. Die unerbittlich direkte Alma, selbst nie Mutter geworden, die in Hal sowas wie einen Ersatzsohn sieht mit brutalem Statement: „Dieses Mädchen hat heute ungefähr zehn Jungs Hoffnungen gemacht. Und von diesen zehn bist du der Letzte auf ihrer Liste, das garantiere ich dir.“

„Dunkelzeit“ ist kein Krimi im eigentlichen Sinn, vielmehr ein schonungsloses Sezieren von menschlichen Beziehungen, familiären Strukturen und dörflichen Gemeinschaft. Es ist eine kleinbürgerliche, scheinheilige, moralisch verkommene, verlogene und letztlich kriminelle Bagage, ohne einen Funken Ehrgefühl, in dumpfen Egoismus versinkend. Alma und Clyle: Schweinefarmer, Clyle in Gunthrum aufgewachsen, Alma, Städterin auch Chicago, verbitterte Einzelgängerin und unbeliebte Wahrheitsfanatikerin, notorische Nörglerin und Besserwisserin mit ungezügeltem Helfersyndrom, gezeichnet durch Schicksalsschläge, zerfressen durch Eifersucht; „…, dass sie jemanden brauchte, der sie brauchte?“ Punktum. Linda und Joe mit ihren Kindern Peggy und dem 12jährigen Milo. Milo dient Flanagan als Antithese zur fiesen Gesellschaft Gunthrums. Noch unverdorben, etwas naiv, wahrheitsliebend und er liebte seine Schwester.

Ein nachdenklicher Roman, ein packendes, tolles Debüt über Verlierer, Außenseiter und Gesetzesbrecher in der gottverlassenen amerikanischen Provinz Nebraskas ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. 2022 ausgezeichnet mit dem Edgar Award und es macht mich neugierig auf kommende Veröffentlichungen von Erin Flanagan.
von Manfred Fürst - 2024-04-01 11:53:00