Rezensionen

Gentleman über Bord

Autor: Herbert Clyde Lewis

Erschienen 2023 bei mareverlag
ISBN 978-3-86648-696-6
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Gentleman über Bord - 5 Sterne

Die Wiederentdeckung eines tragikomischen Romans! Der Protagonist Henry Standish fällt durch ein Ungeschick über Bord seines Kreuzfahrtschiffs. Sein "Mann über Bord" ruft er als Gentleman nur sanft, sodass es ungehört über den Wellen verklingt. Die Crew und seine Mitreisenden werden seine Abwesenheit ja bald bemerken, oder?

"Gentleman über Bord" ist ein kleines, feines Stück Literatur, das v.a. durch die psychologische Beobachtung der Hauptfigur besticht. Der einsam auf dem Meer treibende Standish, der alle möglichen Stimmungen durchlebt, ist eine Figur, mit der man mitfühlt. Parallel dazu werden die Vorkommnisse auf dem Schiff weitergestrickt.

Psychologisches Portrait, soziologische Studie, aber so leicht geschrieben wie Meeresschäumen.
von MMag. Katharina Huchler - 2023-07-25 16:10:24

Gentleman über Bord - 5 Sterne

Dieser Roman von Herbert Clyde Lewis stammt zwar aus dem Jahre 1937, ist aber erst jetzt – 2023 – erstmals auf Deutsch erschienen und hat mich begeistert: eine wirklich kostbare Neuentdeckung! Die kurzweilige und äußerst berührende Erzählung scheint nämlich zeitlos: Die Spannung um das Schicksal des Protagonisten Henry Preston Standish bleibt bis zuletzt aufrecht erhalten; das ihm Widerfahrene ist tragisch, wird aber mit so viel Klugheit, sogar Witz und Empathie vom Autor dargestellt, dass an diesem Geschehnis emblematisch eine ganze Welt an Konventionen und Ambivalenzen entlarvend ans Licht kommt – es ist also eine fein gesponnene, niemals belehrende oder psychologisierende Gesellschaftskritik, die heute wie damals gilt. Das eigentliche Ereignis ist rasch erzählt: ein wohlsituierter Gesellschaftsmann – ein wahrer „Gentleman“ – stürzt während einer Schiffsreise aus Versehen (auf einem Ölfleck ausrutschend) in den Pazifik und hofft auf Rettung, wobei er nicht mit der Gleichgültigkeit der Crew und der anderen Passagiere gerechnet hat, die sein Verschwinden gar nicht bemerken – bis es schließlich zu spät ist. Aber: Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten schließlich nicht einfach so von einem Schiff mitten in den Ozean: „So etwas machte man schlichtweg nicht, das war alles. Es war eine blöde, kindische, ungezogene Tat, und wenn Standish jemanden hätte um Verzeihung bitten können, dann hätte er es getan. Die Leute daheim in New York wussten, dass Standish ein ausgeglichener Typ war. Seine Erziehung und Ausbildung hatten die Ausgeglichenheit hervorgehoben. Selbst als Heranwachsender hatte Standish immer das Richtige getan. Weit entfernt davon, blasiert zu sein oder einen Kult mit Umgangsformen zu treiben, war Standish wahrhaft ein Gentleman von der guten, unaufdringlichen Sorte.“

Aber was geht Standish in jenen Augenblicken durch den Kopf – angesichts des sicheren Todes? Erst allmählich wird der Gentleman sich selbst gegenüber zugeben, dass er ohnmächtig ist, sein Schicksal zu wenden, was ihn an die Grenzen der Existenz führt: „Er wusste jetzt auch“, so heißt es gegen Ende, „dass es nichts annähernd so Schreckliches gab wie den Umstand, der letzte Mensch auf einer flachen Erde zu sein, allein genau in der Mitte eines zum Wahnsinn treibenden Kreises“. Diese Stelle erinnert an den Text „Er putzt“ von Valeria Gordeev, die gerade am vergangenen Sonntag den Ingeborg-Bachmann-Preis 2023 erhalten hat: Die Vorsitzende der Jury in Klagenfurt erklärt in ihrer Laudatio, es sei ein Plädoyer, wenn es um Empfindlichkeit gehe. Ein Text, der Belastung begegne und sich weite, ohne beliebig zu sein: Die Autorin habe Humor und liebe, was sie tue. Aber sie wisse um ethischen Grenzen. Sie lasse ihren Text sprechen, er vermittle, was Oberflächenspannung bedeute. Gordeev zeige einen möglichen Weg aus der Gleichgültigkeit, so Insa Wilke. Und diesen Weg aus der Gleichgültigkeit zeigt m . E. auch Lewis in seinem Roman, der bereits im Titel das ganze Geschehen lakonisch zusammenfasst: „Gentleman über Bord“. Was sich aber im Inneren des Menschen abspielt, macht die eigentliche Faszination aus – und das gerade deshalb, weil es der Autor schafft, durch eine nüchterne Sprache eine Distanz zur Hauptfigur zu schaffen, die aber im Lesenden eine stets steigende Wärme und Empathie Standish gegenüber hervorruft: Man kann bis zum Schluss nicht umhin, sich zu wünschen, er möge gerettet werden. „Nichts ist komischer als das Unglück“, schrieb Samuel Beckett einmal und Lewis gelingt es, heitere Momente trotz aller Tragik aufklingen zu lassen, sodass die Lektüre niemals zu düster wird: „Als Henry Preston Standish kopfüber in den Pazifischen Ozean fiel, ging am östlichen Horizont gerade die Sonne auf. Das Meer war so still wie eine Lagune, das Wetter so mild und die Brise so sanft, dass man nicht umhinkam, sich auf wunderbare Art traurig zu fühlen. In diesem Teil des Pazifiks vollzog sich der Sonnenaufgang ohne großes Tamtam: Die Sonne setzte lediglich ihre orangefarbene Kuppel auf den fernen Saum des großen Kreises und schob sich langsam, aber beständig nach oben, bis die matten Sterne mehr als genug Zeit hatten, mit der Nacht zu verblassen. – Tatsächlich dachte Standish gerade über den gewaltigen Unterschied zwischen dem Sonnenaufgang und dem Sonnenuntergang nach, als er den unglücklichen Schritt machte, der ihn in die See beförderte.“

Schließen möchte ich meine Empfehlung mit den wunderbar tröstlichen Worten, die uns mit der Geworfenheit unserer Existenz zu versöhnen vermögen: „Standish dachte, dass kein Schmerz jemals dem Schmerz gleichen könnte, als sein Herz brach. Aus dem sich verfinsternden Purpur stiegen, irrwitzig melodisch, die Worte und treiben ihn zurück in die Arme seiner Mutter: „Du warst nur Haarstaub und ein warmer Leib, ein Herz, das unverhüllt vor mir schlug, und eine sorgenvolle Stimme, dem Gemurmel des Wassers gleich, das auf ewig dazu verurteilt ist, aus einer Höhle in eine Höhle zu stürzen …“ Welche Metapher – wenn nicht das Herz einer Mutter – könnte besser erklären, dass das „Geworfen-Sein“ unserer Existenz, wovon der Philosoph Heidegger spricht, – auch in den tiefsten Abgründen des Pazifik – sich verwandeln kann in eine Haltung, die in ein „Gehalten-Sein“ übergeht, wie es Edith Stein ausdrückt: „Ich weiß mich gehalten und habe darin Ruhe und Sicherheit - nicht die selbstgewisse Sicherheit des Mannes, der in eigener Kraft auf festem Boden steht, aber die süße und selige Sicherheit des Kindes, das von einem starken Arm getragen wird - eine, sachlich betrachtet, nicht weniger vernünftige Sicherheit. Oder wäre das Kind 'vernünftig', das beständig in der Angst lebte, die Mutter könnte es fallen lassen"?
von Katja Hölzl - 2023-07-04 11:30:51