Rezensionen

Vertraute Welt
Roman

Autor: Hwang Sok-Yong

Erschienen 2020 bei Europa Verlag München
ISBN 978-3-95890-303-6
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Ein Leben im Müll der Gesellschaft - 5 Sterne

Faszinierend, bewegend, erschütternd. In seinem Roman beschreibt Hwang Sok-Yong, wie ein Jugendlicher und seine Mutter auf die tiefste Stufe der Gesellschaft hinabrutschen. Mit dem Umzug auf die Blumeninsel landen sie inmitten einer Barackensiedlung auf der größten Müllkippe Seouls, wo die Bewohner unter unwürdigen Bedingen Urban Mining betreiben. Täglich rollen die Laster an und laden den Müll der Gesellschaft dort ab. Und täglich durchkämmen die Müllsammler die Abfälle nach verwertbaren Rohstoffen, welche von Recyclern aufgekauft werden.
Nicht nur das dortige Leben an sich, welches der Autor erschreckend detailreich und einfühlsam beschreibt, ist bewegend, sondern vor allem der Umstand, dass dieses System der menschlichen Müllsortierer von den Verantwortlichen sogar durch käufliche Lizenzen noch regelrecht gefördert wird. Ein weiterer Aspekt, welcher thematisiert wird, ist der schwindende Glaube an das Volk in der Anderswelt, eine Art Naturgeister, welches dem dortigen Glauben nach parallel zu den Menschen das Land bevölkert und dessen Lebensraum durch den Raubbau und die Vergiftung der Natur zunehmend schwindet.
Ein sehr bewegender, gesellschaftskritischer Roman, welcher eine Welt beleuchtet, die den meisten wohl nicht vertraut ist und den Opfern der Konsumgesellschaft eine überzeugende Stimme verleiht.
von Christina P. - 2021-10-24 18:20:00

Anders und doch nicht so anders - 5 Sterne

Glupschaug und seine Mutter können die Miete am Berhangslum nicht mehr bezahlen, weil der Vater in ein Umerziehungslager verfrachtet wurde. Ihre einzige Chance bietet ihnen der Baron, der ihnen den Umzug auf die Blumeninsel ermöglicht.
Die Blumeninsel ist die größte Müllhalde in der Nähe von Seoul. Dort lebt die Gesellschaft der Müllsammler; die Menschen, die es in der Stadt nicht geschafft haben, die die Stadt ausgestossen hat, wie den Müll, von dem sie leben.
Diese Welt, die Glupschaug und seiner Mutter schnell vertraut wird und die wir uns kaum vorstellen mögen, beschreibt der Autor mit einer unglaublichen Verve. Er zeigt uns eine Gesellschaft, die gut organisiert und strukturiert ist. Wo die Kinder auch einfach Kinder sind. Sie sind neugierig, spielerisch, lieben es ein Geheimversteck zu finden und manchmal ihre Tage einfach dahinplätschern zu lassen.
Die Erwachsenen lassen ihre Tage an den Tonnenfeuern ausklingen, essen und trinken zusammen und natürlich gibt es auch Streit und Rankeleien. Aber der Autor schafft es, die Menschen, die an der untersten Stufe angekommen sind, mit Würde darzustellen.
Hang Sok-yong hat eine Geschichte geschrieben, die gar nicht so trostlos ist, wie man es vermuten würde. Man könnte jetzt meinen, er verzärtelt das Leben der Müllsammler. Aber das macht er nicht. Er beschönigt nicht. Er zeigt uns lediglich, dass Menschen die unter giftigen Dämpfen und bestialischem Gestank leben, auch Träume haben, sich amüsieren wollen, Freundschaften pflegen, lieben und Kinder erziehen. Sie sind gar nicht so anders als wir. Sie essen nur, was wir für nicht mehr gut genug befinden.
Zusätzlich zur Tatsache, dass der Autor uns eine Welt nahebringt, die leider vielen Menschen vertraut ist, gibt es in diesem Roman noch ein Element des magischen Realismus. Es könnte auch ein Element aus dem Shintokult sein. Auf jeden Fall zeigt er auf, dass die Welt der Geister einfach neben unserer Welt besteht und zeigt uns somit, wie die Blumeninsel vor ihrer neuen Bestimmung als Misthaufen ausgesehen hat und wie sie ja auch jetzt wieder aussieht. Denn die Geschichte spielt in den 70er oder 80er Jahren. Was aus den Menschen wurde, die ihr Auskommen dort fanden, weiß ich leider nicht. Es bleibt die Hoffnung, dass es diesen Broterwerb einfach nicht mehr braucht.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Ich fand es beeindruckend, wie behutsam der Autor mit seinen Figuren umgeht, ihre Würde bewahrt. Außerdem gibt das Buch ordentlich zu denken, was unser Konsumverhalten anbelangt.
Uns zusätzlich gefällt mir, wie schön der Autor die dreckige Seite Südkoreas zeichnet!
von Miro76 - 2021-10-17 19:21:00

Koreanisches Sozialdrama - 5 Sterne

Vertraute Welt von Hwang Sok-Yong ist im Original schon von 2011 und weniger opulent gestaltet als sein historischer Roman Die Lotusblüte.
Aber auch hier gibt es viel Atmosphäre und intensive Sprachbilder.

Wer in dem Vorort von Seoul nahe der großen Müllhalde lebt, befindet sich im sozialen Abseits. Die Kinder und Jugendliche, die hier aufwachsen, haben wenig Perspektiven.

Manche versuchen, von den Funden auf der Blumeninsel, wie die giftige Müllhalde genannt, zu leben. Eine ganz eigene Hierarchie bestimmt hier das Leben. Das Leben als Müllsammler ist hart.
Die Stärke des Romans ist, dass die Jugendlichen Glubschaug und Glatzfleck im Mittelpunkt stehen. Das gemeinsame Schicksal macht sie zu Brüder.

Hwang Sok-Yong hat ein packendes Sozialdrama geschrieben.
von yellowdog - 2021-07-07 22:31:00