Rezensionen

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Roman | Wer kann ich sein, wenn ich es nicht mehr allen recht machen muss?

Autor: Scherzant, Sina

Erschienen 2023 bei park x ullstein
ISBN 978-3-9881600-2-7
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Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne - 5 Sterne

Katha managet ihr Leben seit der Scheidung ihrer Eltern selbst. Ihre alleinerziehende Mutter ist oft überfordert und die kleine Schwester nervt. In der neuen Schule lernt sie Angelica kennen, die ihr ganzes Leben und ihre Identität auf den Kopf stellt. Ihre Freundschaft ist etwas Besonderes, das Beste, das passieren konnte. Eine sehr gefühlvolle Story mit den Höhen und Tiefen, die das Leben so bietet. Einfühlsam, nachdenklich, ein sehr gelungener Debütroman mit Einblick in die Teenagerwelt.
von Andrea - 2023-11-01 13:05:02

Die Lebenshandwerkerin - 5 Sterne

Katha erzählt uns ihre Geschichte, aus ihrer Brille und immer aus ihrem Hier und Jetzt. Wir lauschen ihrer Welt ungeschönt und direkt nach der Scheidung ihrer Eltern. Sie zieht mit ihrer Mutter und Schwester Nadine nach Dortmund. Eine neue Stadt, ein Neuanfang.
Was Katha prägt ist der ständige Wille unauffällig alles im Lot zu halten. Was sie will, verdrängt sie, das blendet sie stets aus. Schon in Kindertagen war das so, nach der Scheidung noch viel stärker. In dieser neuen Stadt trifft sie auf Angelica: ein Anker, eine Frau, die ihr die Perspektive auf die Welt aus einem neuen Blickwinkel ermöglicht. Angelica ist die Mutter ihrer Freundin und wird fast zu einer Ersatzmutter. Als diese später erkrankt, geht es Katha an die Nieren.
Der Roman ist ein Spiel mit kindlicher Prägung, Glaubensätze die verinnerlicht werden und die uns ein Leben lang belasten und einschränken. Eine Reflektion aus der Lesendenperspektive. Tragisch und doch so alltäglich. Daher auch so bereichernd. Der sperrige Titel „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hat mich erst irritiert und nach dem Lesen beglückt.
Dieses Buch ist Sina Scherzants Debüt und ist ein starker Coming-of-Age Roman. Sehr locker und einfach geschrieben, nahe an der Protagonistin. Je nachdem in welcher Lebensphase Katha sich befindet. Die Sprache des Teenagermädchens ist eine andere als die der erwachsenen Frau. Mich hat die Autorin überzeugt und ich freue mich auf weitere Werke der Autorin!
von nil_liest - 2023-10-14 18:18:00

Coming of Age und Trauer - 3 Sterne

Die Wohnung beengt, die Mutter von Arbeit und der eigenen Verzweiflung eingenommen, die neuen Mitschüler*innen - mal schauen. Wenn ihr eigenes Leben gerade schon irgendwie unbequem ist, sollen es wenigstens die anderen besser haben, denkt sich Katha, und so tut sie, was sie immer tut - sie macht es allen recht. Kümmert sich um die jüngere Schwester, die sich kaum in ihr neues Leben einfinden kann, schmeißt den Haushalt, arbeitet in der Schule mit. Sie ist Mustertochter, Musterschwester, Musterschülerin, Musterfreundin. Sie ist Lebenshandwerkerin. Ihre Gedanken und Gefühle macht sie, wenn überhaupt, mit sich selbst aus. Bis sie eines Tages am Fenster Angelicas steht und es plötzlich aus ihr herausbricht, all das, was sich in den letzten Jahren angestaut hat.

Nach der Scheidung ihrer Eltern ziehen Katha und Nadine mit der Mutter nach Dortmund. Die Trennung hat sich lange abgezeichnet, Kuppelversuche mittels Zettelbotschaften hin oder her. Und nun sitzen sie dort, in dieser Wohnung, in der sich niemand wirklich zuhause fühlt, in der die Abwesenheit des Vaters allgegenwärtig ist, in der man einander und der Welt nur im Badezimmer entkommen kann. Anschluss in der Schule findet man schnell, wenn man ein Chamäleon ist, für Katha also im Gegensatz zu ihrer Schwester kein Problem. Aber wohin mit all dem, was sich nicht aussprechen lässt, weil es niemanden interessiert, weil man stark sein und für andere da sein muss? In Angelica findet Katha eine Gesprächspartnerin, denn sie hört ihr zu, sie will wissen, wie es Katha geht. Und zwar wirklich, da genügt keine Standardantwort. Angelica gibt Katha all die mütterliche Liebe und den Halt, die dieser in ihrem jungen Leben fehlen. Und dann, eines Tages, steht das alles einfach so vor dem Aus, und für Katha gerät die Welt ins Wanken.

Scherzants Roman ist der Inbegriff von Coming-Of-Age, besonders in der ersten Buchhälfte. Katha, die nach und nach all die Schwierigkeiten des Lebens erahnt, die längst kein Kind mehr ist und manchmal doch so gerne noch eins wäre, muss lernen, sich nicht nur in der Welt zurechtzufinden, sondern auch für sich selbst einzustehen. Der zweite und dritte Teil des Buches dann widmen sich Angelica und ihrer Krankheit und Kathas Umgang damit. Der zweite Teil ist dabei eher fragmentarisch und arbeitet viel mit Wiederholungen und alternativen Szenarien. Das kann mitunter recht anstrengend werden, weil sich Realität und Fantasie vermischen und weil die Leichtigkeit, die die erste Buchhälfte trotz allem kennzeichnet, der Eintönigkeit und der Last von Trauer und großem Schmerz weichen. Anschließend nimmt die Handlung zwar nochmal etwas an Fahrt auf, reicht aber nicht mehr ganz an den Beginn des Romans heran; eine gute Lektüre ist der Roman dennoch.
von Anna625 - 2023-10-11 11:50:00

Freundschaft, Verlust, Trauer - 4 Sterne

Katha(rina) wird schon früh mit Eigenverantwortung und dem Managen ihres Lebens konfrontiert: die Eltern geschieden, die alleinerziehende Mutter oft überfordert, die jüngere Schwester boshaft, quengelig und doch zu Katha aufschauend. Diese sieht sich als Lebenshandwerkerin zwischen den Fronten mit der Idealvorstellung, irgendwann einmal zur Mitarbeiterin des Monats gekürt zu werden. Doch eigentlich braucht die 14jährige selbst Hilfe und Beratung. Diese findet sie auch in der Mutter einer Freundin und empfängt einige wichtige Richtungsweisungen.
Dann schlägt eine Lebensveränderung zu, die Katha große Angst macht: Der Weltuntergang stürzt auf sie ein, und der Wolf verschlingt sinnbildlich diese eine, für sie leuchtende Sonne.
Ja sicher, eine handfeste Metapher, aber solche Metaphern gibt es haufenweise im vorliegenden Roman, ohne dass sie jemals langweilen. Damit gelingt es der Autorin Sina Scherzant, ihren eigenen Stil zu kreieren.
Doch, einige Passagen fand ich zu weitschweifig und ausufernd. Auch was die Stellen bedeuten, die mit „O.“ übertitelt sind, habe ich nicht ganz verstanden. Doch insgesamt finde ich, dass dieses Buch sehr nahegehend das Portrait einer Jugendlichen beschreibt. Das Badezimmer als Oase mit fliegendem Teppich zum Fortträumen, die Bewältigungsstrategien der beiden Schwestern, und wie der eigenen, sehr individuellen Trauer auf den Grund gegangen wird, das hat mir sehr gefallen.
Ich empfehle diesen Roman all jenen, die noch nicht vergessen haben, wie ihre Empfindungen als Vierzehnjährige waren. Ein großartiges Erstlingswerk!
von Emmmbeee - 2023-09-12 17:17:00

Vom Sehen und gesehen werden - 5 Sterne

"Ohne es zu wissen, lechzte ich offensichtlich danach, gesehen zu werden, und die Sehende zu teilen kam nicht infrage."

Katha ist vierzehn und nicht nur ihr Alter garantiert Umbruch, sondern auch das Leben, das sie nicht beeinflussen kann. Ihre Eltern trennen sich, sie ziehen mit Mutter und Schwester in eine neue Stadt und sie hat viel damit zu tun, es allen recht zu machen. Ihre Mutter versinkt in Selbstmitleid, ihre Schwester rebelliert biestig, aber liebenswürdig gegen alles und jeden. In der neuen Schule findet sie auf Anhieb Anschluss, weil sie es perfekt beherrscht, sich einzufügen. Durch ihre neue Clique kommt es zu einer Begegnung, die ihr ganzes Leben, ihre ganze Identität auf den Kopf stellen wird: Angelica, die Mutter der Cliquen-Anführerin Sofie, ist anders; rebellisch, unangepasst, bunt, Frauen liebend. Und sie ist die Erste, die Katha scheinbar sieht.

Sina Scherzant erzählt in "Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne" eine vielschichtige, einfühlsame und feministische Geschichte vom Erwachsenwerden, vom Sich-Finden und vom Empfinden tiefer Verbundenheit, die sich nicht kategorisieren lässt. Haarscharf analysiert sie das Komplizierte an Beziehungen, an Freundschaft, Liebe und der eigenen Identität, verpackt es in einer auto-fiktionalen Erzählung und schafft es gekonnt, die Protagonistin zum Wachsen zu bringen. Die Geschichte ist packend von der ersten Zeile weg, sofort ermöglicht es die Autorin sich in Katha hineinzuversetzen. Die Lesenden fühlen die Zerrissenheit und die Forderung endlich gesehen zu werden; das Für und Wider es allen stets recht zu machen - und den Ausbruch daraus. Der Schreibstil ist kurzweilig und herausfordernd zugleich, denn philosophische und gesellschaftskritische Gedanken begleiten stets den Fortgang der Geschichte. Zwischendurch, in einer Phase der Trauer, werden die Gedanken so selbstzerstörerisch, dass es beinahe unaushaltbar ist. Aber darin liegt die große Stärke des Geschriebenen, denn auch dieser Prozess ist nachvollziehbar und nachfühlbar. Und schließlich versöhnt uns die Autorin mit der Trauer und der Tatsache, dass sich das Leben weiterentwickelt.

Sina Scherzant ist ein ganz großer, einfühlsamer und feministischer Debütroman gelungen, der lange nachhallen wird und es definitiv verdient hat, (mindestens) ein weiteres Mal gelesen zu werden!

Tolles Debüt - 4 Sterne

„Wir sollten aus diesem Spielchen aussteigen. Am Ende profitiert keine von uns davon, wir bremsen uns bloß gegenseitig aus mit dieser Missgunst, dem Neid und der Idee, dass wir mit ausgestreckten Ellenbogen an anderen Frauen vorbeilaufen müssen. So kommen wir nicht weiter.“ (S. 141)

Da stehen wir als Leser*innen. Mitten im Wohnsimmer von Katha, Nadine und ihrer Mutter – und dem Hamster Zlatko, der auch eine tragende Rolle im Buch spielt! Doch die emotionale Rolle der Mutter übernimmt die 14-jährige Katha, ihres Zeichens „Lebenshandwerkerin“. Die Mutter frustriert, ob der gescheiterten Ehe, der neuen an der Seite des Ex, des stressigen Jobs, der fordernden Kinder und eigentlich des gesamten Lebens. Und so tritt Katha in diese Rolle, federt viele Dinge ab, gleicht aus und tut alles, um die Menschen in ihrer Umgebung glücklich zu machen und sie beschützt immer ihre kleine Schwester. Sie fällt nicht auf, sie macht alle fröhlich, passt sich an und stellt ihre eigenen Wünsche immer hintenan. Nach dem sich die Familie trennte, zogen die drei nach Dortmund und die Mädchen besuchten auch neue Schulen. Katha lernte dort ihre neue Clique kennen. Und im Zuge dessen lernt sie Angelica kennen, die Mutter ihrer Freundin. Angelica, die so ganz und gar das Gegenteil ihrer Mutter ist. Lustig, humorvoll, freundlichen, zuhören kann, die Mädchen beschützt und aufbauend.

„Doch meine Mutter war eine Verderberin, die Nadine nicht einfach mit einem glücklichen Tag davonkommen ließ. Einige Menschen besaßen so ein Talent zum Verderben […] – und meine Mutter hatte sehr laut „Hier“ geschrieben, als diese Gabe verteilt wurde.“ (S. 127)

Und so folgen wir der Entwicklung von Katha in dieser Geschichte und ich hat so ein Deja Vu, dass es mir teilweise die Gänsehaut aufzog. Als Teenie der 90er passe ich gut in diese Geschichte. Und in dieser Rolle des Beschützens des kleineren Geschwisterchens kenne ich mich aus – mein kleiner Bruder war ein Stinkstiefel sondergleichen manchmal, aber ich habe immer versucht nix über ihn kommen zu lassen. Daher haben wir vermutlich auch heute diese besondere und vertraute Beziehung zueinander. Ich lieb den einfach sehr!!

Und diese Zerrissenheit, wenn man mit der eigenen Mutter nicht reden kann, aber mit der von der Freundin schon. Und dann kommt da noch das Gefühl von „verstanden werden in seiner Gesamtheit als Teenagerin“. Wie gut konnte ich mich mit ihr identifizieren. Dieses ständige gefallen müssen, sich in eine Clique anzupassen … das hatte ich alles in den 90ern zwischen 13 und 18 Jahren. Hier hat sich in mir ja eine Schlucht aufgetan, als ich darüber nachdachte, welchem Druck wir da damals ausgesetzt waren. Welche Scham viele Mädchen und Jungs eigentlich über uns gebracht haben … ob es bei Marken-Bikinis anfing und langer Wallemähne mit perfektem Body, den ich nie hatte, aufhörte … ich kam da beim Denken überhaupt nicht mehr klar. Es war also schon immer da … es war NIE anders … und heute mit Anfang 40 sitze ich da und schüttle den Kopf über diese Zustände, die uns ja damals gar nicht auffielen … Dieser „Wut-Ausbruch“ bei mir kam erst vor wenigen Jahren, als ich aufhörte mir über die Meinung anderer Gedanken zu machen; Meinungen über meinen Body, meine Beine, meine Haare, meine Figur, meine Arbeit, meine Persönlich … f*ck you all!!
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Danke für dieses tolle Buch – es hat mich nochmal retour katapultiert in die 90er-Clique und den Dauerzustand von Gefühlschaos. An manchen Stellen wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll! Super geschafft den Bogen „des jugendlichen Seins zum Druck der Gesellschaft“ zu spannen und zeitgleich auch aufzuzeigen, welchen inneren Strudeln Kinder und Jugendliche oft ausgesetzt sind. Nicht nur im Pool der eigenen Vielfalt mit gleichaltrigen Persönlichkeiten, sondern auch – und das ist eigentlich die Crux, worüber sich Eltern Gedanken machen müssen!! – ihrem Pflichtgefühl, ihrer Loyalität und Liebe gegenüber den Eltern sowie dem Schutz ihrer kleineren Geschwister UND dem Wunsch, dass es allen in einem Familienverbund gut geht, während diese Kids auf sich selbst vergessen!!

„Die Traurigkeit meiner Mutter war eine Ansammlung von Kratern, in die alles hineinfiel, wenn man ihr zu nah kam.“ (S. 80)

Super tolles Debüt - hat mich sehr berührt, zum Lachen gebracht und daher eine fette #leseempfehlung!
von mari_liest - 2023-09-08 13:32:00