Rezensionen

Rezensionen von anushka

Autor: Laëtitia Colombani

Aufrüttelnd, aber nicht so anspruchsvoll wie gedacht - 4 Sterne

Paris heute: Durch ein tragisches Ereignis wird die Anwältin Soléne aus der Bahn geworfen. Um wieder einen Sinn im Leben zu finden, erklärt sie sich widerwillig bereit, Schreiberin in einem Frauenhaus zu werden. Zwischen zahlreichen Selbstzweifeln lernt Soléne die dort lebenden Frauen und ihre teilweise schrecklichen Geschichten immer besser kennen und merkt, dass ihre Tätigkeit viel mehr ist, als Briefe schreiben für Frauen, die das selbst nicht können.

Paris, 1925: Ebenfalls nach einem Sinn für ihr Leben sucht die junge Blanche Peyron. Sie schließt sich der Heilsarmee an und setzt sich für die Obdachlosen und Armen ein, die gerade durch den ersten Weltkrieg und Wirtschaftsprobleme entstanden sind. Nicht wenige davon sind Frauen. Nach vielen und kraftraubenden Anstrengungen gelingt es ihr, einen Zufluchtsort für Frauen zu gründen,der auch fast 100 Jahre später noch bestehen soll.

"Das Haus der Frauen" ist nach "Der Zopf" das zweite Buch der Französin Laetitia Colombani und wurde in Frankreich groß gefeiert. Auch in Deutschland kletterte es schnell die Bestsellerliste hoch. Ich habe das erste Buch noch nicht gelesen, aber sehr viele positive Stimmen dazu wahrgenommen. Mit diesen Vorschusslorbeeren bin ich mit großen Erwartungen an das Buch herangegangen. Auch, weil mir die optische Gestaltung außerordentlich gut gefällt und das Thema so ein relevantes ist. Ich war dann doch ein wenig enttäuscht, weil ich ein tiefgründigeres, und vielleicht auch anspruchsvolleres, Buch erwartet hatte. Andererseits kann ich mir auch vorstellen, dass das Buch auf diese Art mehr Leute erreicht. Gerade die verschiedenen Geschichten der Frauen sind berührend und aufrüttelnd. Sie machen deutlich, aus was für verschiedenen Gründen Frauen letztlich so einen Zufluchtsort aufsuchen, was sie hinter sich gelassen haben und wie weit außen am Rand der Gesellschaft die Frauen stehen, die es besonders schlimm erwischt hat. Tatsächlich habe ich mich nach dem Lesen dabei ertappt, mich zu fragen, was die eine oder andere Bettlerin in der U-Bahn oder vor dem Kaufhaus schon erlebt und durchgemacht hat. Dennoch habe ich auch hieran Kritik, denn viele der Schicksale stehen beispielhaft und dadurch mitunter etwas schablonen- und klischeehaft für verschiedene Arten von Schicksalen. Hier wurde meiner Meinung nach Potential verschenkt. Soléne wirkte hier eher wie das verbindende Element, konnte mich aber nicht für sich gewinnen. Auch die eigentliche Geschichte des Frauenhauses stand eher im Hintergrund und Blanche wirkte in diesem Buch eher wie schmückendes Beiwerk. Auch über sie hätte ich gern noch mehr erfahren.
Insgesamt hätte man aus dem Stoff mehr herausholen können. Der Stil war für mich nicht so poetisch, wie ich es gern gehabt hätte, las sich aber flüssig und die Handlung konnte mich für viele Figuren und vor allem ihre Schicksale einnehmen. Es ist also durchaus eine lohnende Lektüre, wenn auch mit Abstrichen.
Autor: Dror Mishani

Ein wirklich besonderes Buch - 5 Sterne

Orna verkraftet die Trennung von ihrem Mann nur schlecht. Nun ist sie mit ihrem Sohn allein. Doch dann lernt sie Gil kennen ...
Emilia ist in einem fremden Land und pflegt alte Menschen. Doch ihre aktuelle Stelle macht sie unglücklich. Dann begegnet sie Gil ...
Ella ist desillusioniert von ihrer Aufgabe als dreifache Mutter. Auf ihrer kleinen täglichen Flucht in einem Café wird sie von Gil angesprochen ...

Der Verlag hat um dieses Buch schon vorab einen ziemlichen Wind gemacht. Vor allem darum, dass das Buch nicht wirklich beschreibbar sei ohne dabei zu spoilern. In der Tat sollte man nicht zu viel von der Handlung verraten, denn das Buch lebt von den Überraschungen. Was man jedoch sagen kann ist, dass es dem Autor unglaublich gut gelungen ist, seine Figuren zu entwickeln und Emotionen zu vermitteln. Alle Figuren sind sehr lebensnah und man entwickelt eine emotionale Bindung zu ihnen. Auch wenn die ersten rund 80 Seiten sich zunächst langsam angehen und man vielleicht ein wenig ermüdet von Ornas Innenschau, kann der Autor jedoch zunächst eine subtile und später immer deutlichere Spannung aufbauen, die die anfängliche Irritation, ob man nun wirklich ein solch besonderes Buch lese wie angekündigt, verfliegen lässt. Ich konnte das Buch irgendwann kaum noch aus der Hand legen und war schließlich bis zur letzten Seite gefesselt. Mich hat dabei überrascht, wie sprachlich elegant und ruhig der Autor seine Figuren zum Leben erweckt und sich die Zeit nimmt, ihre Lebenssituationen vor dem Leser auszubreiten und dabei nach einem sehr ruhigen Einstieg dann durchweg die Spannung hält. Es geht hier nicht um plumpe Action oder pure Spannung, bei der die Logik auf der Strecke bleibt. Stattdessen findet man verständnisvolle psychologische Porträts dreier Frauen in Tel Aviv, die so unterschiedlich voneinander sind und dennoch alle von einem zentralen Motiv, nämlich der Sehnsucht, getrieben werden. Hin zu einem Punkt, an dem die Schicksale zusammenlaufen.

Meine anfängliche Skepsis, ob das Buch dem Hype (des Verlags) standhalten kann, verwandelte sich zunehmend in Begeisterung. Und ich bin nach dem Lesen tatsächlich der Meinung, dass dieses Buch eine großartige Entdeckung ist, die mir so viel mehr als nur kurzweilige und spannende Lesestunden gegeben hat, denn sie lässt uns auch über Menschen und ihre Schicksale nachdenken. Für mich eines der Highlights des Jahres 2019.

Kindgerechtes Buch zum Vorlesen und Selbstlesen - 5 Sterne

Hui Buh ist ein kleines Gespenst und muss noch viel lernen. Denn sein Traum ist es, auf Schloss Burgeck herumzuspuken. Zusammen mit der kleinen Hexe Hedda Hex lernt er beim Lehrmeister Frederik, der Fledermaus, was er dafür braucht. Dafür muss er in jeder Geschichte eine Aufgabe erfüllen, genauso wie Hedda Hex. Das geht natürlich nicht ohne das ein oder andere Missgeschick vonstatten. Außerdem braucht auch immer wieder einmal ein Kind ihre Hilfe ...

Da wir vorher keine Geschichten um Hui Buh kannten (außer die zu diesem Buch passende CD) hatten wir nicht die Einstiegsprobleme wie andere Rezensenten, die noch eine andere Hui Buh-Reihe kennen. Dieser Hui Buh jedenfalls ist sehr kindgerecht gestaltet. Die Altersempfehlung liegt bei 5 Jahren, aber auch Jüngere können durchaus etwas mit der Geschichte anfangen. Neben einigem Schabernack und einigen Streichen zeigen Hui Buh und Hedda Hex immer wieder auch großes Mitgefühl mit Schwächeren und helfen selbstverständlich, während sie den Gegenspielern einen Streich spielen. Dabei bleibt jedoch alles harmlos und den "Bösen" wird eins ausgewischt, ohne nachhaltigen Schaden zu verursachen. Natürlich ist dabei auch vieles vereinfacht, beispielsweise darf in der ersten Geschichte ein Vater die Arbeit eine Stunde eher verlassen, weil Hui Buh einfach mal die Turmuhr vorgestellt hat. Ansonsten sind die Botschaften aber sehr schön und der Altersempfehlung angemessen.

Auch von der Gestaltung her ist das Buch schön aufgemacht. Die Farben sind bunt und brilliant und die Bilder überwiegend großflächig. Nicht jede Seite hat Bilder, aber auch das ist für die Altersempfehlung passend. Durch den Doppelband hat man mehr Vorlesematerial. Die Kapitel sind aber für meinen Geschmack ein wenig zu lang geraten zum Vorlesen. Aber das Vorlesen kommt gut an. Und auch für Leseanfänger ist das Buch gut, da die Schrift etwas größer gestaltet ist.

Auch wenn ich ein paar kleinere Kritikpunkte habe, den Kindern gefällt das Buch sehr gut und sie lassen es sich gern vorlesen. Dementsprechend bekommt das Buch von uns 4,5 Sterne.
Autor: Colson Whitehead

Sozialkritik ohne wirklichen Biss - 4 Sterne

Florida, Anfang der 1960er: Der 16-jährige Elwood lebt bei seiner Großmutter. Die Eltern haben ihn Jahre zuvor zurückgelassen. Bislang ist es Elwood gut gelungen, sich im Farbigen-Ghetto von Tallahassee aus Ärger herauszuhalten. Aber auch er kennt bereits Demütigungen. Und als seine Großmutter ihm eine Platte einer Rede von Martin Luther King schenkt, wird sich Elwood der Ungerechtigkeiten immer bewusster. Die Zukunft sieht vielversprechend aus als Elwood einen Platz am College bekommt. Doch dann trampt er in einem gestohlenen Auto und wird als Autodieb ohne gerechtes Verfahren in die Besserungsanstalt Nickel Academy gesperrt. Dort muss er erleben, wie Wärter und Gesellschaft ihren Rassismus ungehemmt ausleben.

Colson Whitehead hat sich auch mit diesem Buch dem Thema des Rassismus gewidmet und reale Ereignisse zugrundegelegt. Zunächst steigt das Buch ein mit einem Team von Studenten, die auf dem Gelände der ehemaligen Anstalt Ausgrabungen vornehmen und abseits des offiziellen Friedhofs menschliche Überreste finden. Dann wechselt die Geschichte zu Elwood, dessen Aufwachsen und schließlich Jugendzeit der Leser ausschnittweise begleitet. Durchsetzt ist dieser Strang immer wieder mit Ausschnitten aus Elwoods Erwachsenenleben als Überlebender der Anstalt.

Der Schreibstil ist ansprechend und poetisch, fast zu "schön" für solch eine grausame Geschichte, die jedoch selten explizit grausam ist. Im Gegensatz zum vorherigen Buch "Underground Railroad" sind die Gewaltszenen dieses Mal wesentlich weniger explizit und oft sogar nur angedeutet. Dementsprechend ist es jedoch auch weniger erschütternd. Zumal alle Jungen zu leiden haben: die Weißen genauso wie die Latinos und die Farbigen, wobei letztere noch einmal schlechter behandelt werden. Ergreifend ist eher, wie Elwoods Träume platzen und er sich wie all die anderen (farbigen) Jungs in das seit Jahrhunderten gängige Schicksal fügen soll, was ihm jedoch zunehmend schwerfällt. So richtig Biss hat die Sozialkritik jedoch nicht und es gibt wenig deutliche Positionierung. Es wird nicht ganz deutlich, was nun zentraler ist: der generelle institutionelle Missbrauch von Kindern oder die Rassendiskriminierung.

Trotz der Kritikpunkte hat mir das Buch insgesamt gut gefallen und es hätte gern länger sein dürfen, ich hätte sicherlich weitergelesen. Vielleicht wäre man dann Elwood auch noch näher gekommen. Mir haben zudem die Kapitel des Erwachsenenalters gefallen. Und schließlich gab es noch einmal eine überraschende Auflösung, die der Geschichte noch eine neue Perspektive gegeben hat.
Autor: Alina Bronsky

Die Familientyrannin: Ernste Themen hinter humoristischer Fassade - 4 Sterne

Maxim ist mit seinen Großeltern aus der ehemaligen Sowjetunion geflüchtet. Juden sind der Großmutter zwar suspekt, aber als Tarnung sind sie allemal gut. Denn die Großmutter hat die Familie als Juden ausgegeben um als Kontingentflüchtlinge angenommen zu werden, Seine Eltern kennt Maxim nicht. Die Mutter ist tot, den Vater braucht er nicht zu kennen. Hat die Großmutter beschlossen. Überhaupt braucht Maxim nicht alles zu wissen. Schließlich ist er ein Trottel, wie die Großmutter nicht müde wird zu betonen. Ihr Schicksal ist doppelt und dreifach schwer, erzählt sie jedem, der es nicht hören will, denn sie muss sich um diesen "Trottel" kümmern. Der noch dazu alle möglichen Krankheiten hat und der deswegen nur pürierte Schonkost essen darf. Die Großmutter führt in dieser kleinen Familie ein strenges Regiment, inmitten des Flüchtlingsheims und einem fremden Land, in dem die Ärzte völlig inkompetent sind (genauso übrigens wie die Lehrer), weil sie Maxim für gesund erklären. So merkt sie schließlich als letzte, dass der Großvater sich verliebt hat.

Der Humor in diesem kleinen Büchlein ist schon recht bissig und vordergründig vermittelt es den Eindruck, dass es darum geht, sich über eine "wunderliche Alte" lustig zu machen. Doch so oft man auch den Kopf über diese tyrannische Frau schütteln will, deren Markenzeichen der hennagefärbte lange Zopf ist, hat das Buch auch seine nachdenklichen Töne. Die Großmutter ist gefangen in ihrer Weltsicht, die nicht selten alle anderen, deren Religionen und Lebensweisen abwertet. Doch man merkt auch immer wieder, dass sie in diesem Land, dessen Sprache sie nicht versteht, die Maxim in Eltern-Lehrer-Gesprächen großzügig frei interpretiert übersetzt, ziemlich verloren ist. Damit diese Familie nicht auseinander bricht, geht sie schließlich eine ungewöhnliche Konstellation ein. Was die Großmutter allerdings nicht weniger herrisch macht. Letztlich zeigt sich aber, dass die Großmutter die Menschen in ihrem Umfeld liebt, dies aber oft auf ihre ziemlich eigene Art zeigt.
Die Autorin hat die Figuren interessant gezeichnet, wenn auch viele davon überspitzt dargestellt sind, vor allem die Großmutter, die mir zwischenzeitlich ordentlich auf die Nerven ging. Manchmal ging es meiner Meinung nach auch zu oft darum, die Großmutter unmöglich zu machen, während mitunter eigentlich ernstere Themen wie Verlustängste oder Angst vor dem Unbekannten dahinter standen.

Stilistisch hat mir das Buch sehr gut gefallen. Die Autorin hat einen tollen Stil und arbeitet die Figuren sehr ausführlich aus. Die Geschichte wird aus Maxims Sicht erzählt, sodass man auch immer eine Gegenperspektive zur Wahrnehmung der Großmutter bekommt und daher nicht selten den Kopf über ihre Ansichten schüttelt. Inhaltlich war mir die tiefere Bedeutung oft zu versteckt und der humoristische Anteil zu vordergründig, sodass die Geschichte manchmal trivial und wenig substanziell wirkte, obwohl sie es gar nicht war. Für meinen Geschmack ist es einfach ein Augenzwinkern zu viel, aber das ist reine Geschmackssache.
Autor: Cornelia Funke; Guillermo Del Toro

Düsteres, pessimistisches Märchen für Erwachsene - 4 Sterne

Spanien, 1944: Als Ofelia die Mühle im Wald und den neuen Mann ihrer Mutter erreicht, ahnt sie schon Schreckliches. Ihre Mutter hätte diese Reise in ihrem Zustand nie antreten dürfen, doch Hauptmann Vidal aus Francos Armee bestand darauf, da Ofelias Mutter mit seinem Sohn schwanger ist. Nun sitzen sie also mit ihm und seinen Männern in einem Wald, in dem sich Widerstandskämpfer verstecken, die vom Hauptmann gnadenlos gejagt werden.
Doch das ist noch nicht alles. Ofelia steht plötzlich einem phantastischen Wesen gegenüber: einem Faun. Dieser behauptet, Ofelia sei die lang gesuchte Prinzessin des Königreichs unter der Erde und sie müsse 3 Prüfungen bestehen, um dorthin zurückkehren zu können. Doch würde Ofelia das überhaupt wollen, selbst wenn es wahr wäre? Immer tiefer gerät sie hinein in diese phantastische Welt, die fast schon eine Flucht wird vor der immer grausamer werdenden realen Welt ...

"Das Labyrinth des Faun" hat mich tief hineingezogen in die Phantasiewelt zweier Autoren, die sich hier über Kontinente hinweg zusammengetan haben. Es handelt sich wohl um das Buch zum Film "Pans Labyrinth". Wie gut es sich an den Film hält, kann ich nicht beurteilen, da ich ihn nicht gesehen habe. Für sich selbst macht das Buch auf jeden Fall einen sehr starken Eindruck. Die Bilder sind sehr szenisch und man hat tatsächlich einen Film vor dem inneren Auge. Nicht selten kann man magischen Traum und surrealen Albtraum kaum auseinander halten in diesem Werk des magischen Realismus und fühlt sich mittendrin, auch wenn das oft eher beängstigend als magisch ist. Denn gerade die Szenen in der "Realität" sind oft sehr brutal: da wird gefoltert, misshandelt und gemordet, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber auch die eingestreuten Märchen und Prüfungen sind nicht weniger blutrünstig und gruselig. So entsteht ein wirklich überzeugendes, sehr ungewöhnliches düsteres Märchen für Erwachsene, aber meiner Meinung nach keinesfalls für Jugendliche unter 16 Jahren. Die Grenzen verschwimmen und manches Mal scheint Vidal eher der Unterwelt und dem Reich des Faun entsprungen als ein Mensch zu sein.
Das Buch enthält eine klare Gesellschaftskritik der Franco-Ära, die gut mit der Grundstimmung des Buches verwoben wird, aber es geht eben dabei auch auf die unmenschliche Behandlung der Bevölkerung und der Widerstandskämpfer ein, in Form eines sadistischen Kommandanten. Um dieser Welt zu entfliehen hinterfragt Ofelia die Existenz eines Fauns erst gar nicht und flüchtet sich immer wieder in den Wald, in der Hoffnung, die Aufgaben erfüllen zu können und als Prinzessin in das Reich unter der Erde wiederkehren zu können. Dabei kam mir Ofelia jünger vor, als sie angeblich war. Von ihrem Wesen und Verhalten her hätte ich sie auf zehn geschätzt, nicht auf 13. Dieses eher kindliche Mädchen vor Augen zu haben hat den Lesefluss jedoch nicht gestört und es hat sich gut in das düstere Märchen eingepasst, sodass man immer wieder auch Angst um die traurige Ofelia spürt, die sich lieber einem Kinderfresser stellt als in der realen Welt dem Hauptmann begegnet.

Das Buch ist sehr aufwendig gestaltet und macht einen fantastischen Eindruck, der zusammen mit dem Leseerlebnis noch lange in Erinnerung bleiben wird. Nicht zuletzt natürlich auch die absolut düstere und hoffnungslose Grundstimmung, die sich auch bis zum Schluss durch das Buch zieht. Auch wenn ich durch das Buch förmlich hindurch geflogen bin und mich gut auf dieses Märchen einlassen konnte, die Sätze aufgesogen und mich immer wieder wohlig gegruselt habe ... ein Buch für Jugendliche unter 16 ist dies auf keinen Fall und da finde ich schade, dass es genau für diese Zielgruppe so angepriesen wird (so zumindest ist mein Eindruck und auch die Aufmachung legt dies nahe).
Autor: Leïla Slimani

Teils sehr explizite, aber wenig substanzielle Betrachtung einer rastlosen Seele - 3 Sterne

Adéle ist verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Sie als Journalistin und er als Chirurg können sich eine Wohnung in einem schicken Pariser Viertel leisten und noch so manch andere Annehmlichkeit. Aber Adéle ist nicht glücklich. Ihr Job ödet sie an, eigentlich wollte sie nie arbeiten müssen. Sie führt dieses Leben nur, weil es sich eben so gehört, man das in ihrem Alter und in ihrem Umfeld so macht. Ob sie ihren Mann liebt? Unklar. Dafür trifft sich Adéle mit anderen und oft fremden Männern um mitunter ziemlich harten Sex zu haben. Doch auch das kann die Leere im Inneren nicht fühlen und Adéle begibt sich in eine Spirale, die alles zu zerstören droht.

Den ersten Roman der Autorin habe ich sehr begeistert gelesen. In "Dann schlaf auch du" verarbeitete die Autorin einen realen Fall und öffnete die Augen für eine ganze Gruppe prekär Angestellter in der heutigen Zeit und im heutigen Umfeld aufstrebender Städter mit Oberschichten-Lebensstil. Bei "Alles zu verlieren" geht meiner Meinung nach dieser gesellschaftliche Blick ein wenig verloren. Wie sehr das Geschehen ganze Gruppen betrifft, bleibt schwer abschätzbar. Sicherlich fügen sich auch hier viele in einen Stereotyp eines Lebens, den sie eigentlich gar nicht mögen. Aber eigentlich geht es mehr um Adéles egoistische Triebe und ihre pathologische Langeweile. Mag sein, dass man sie auch als Suchtkranke betrachten kann, denn schließlich beobachtet der Leser ihre stetige Suche nach einem immer stärkeren Kick, für den sie zunehmend Risiken in Kauf nimmt und schließlich Gefahr läuft, alles zu verlieren. Doch es ist beim Lesen schon ziemlich hart, das Ganze mit "anzusehen". Diverse sexuelle Eskapaden werden doch recht detailliert beschrieben und Adéle kann ihrem Leben so wenig Positives abgewinnen, dass es schwer ist, Sympathie für sie zu entwickeln. Ihre Anbahnungen werden immer plumper und man hat beinahe schon Fremdschämmomente. Was mich am meisten irritert hat, ist Adéles plötzlicher Wandel. Lange Zeit wirkt sie sehr selbstermächtigt, selbstbewusst und zielstrebig, wenn auch nicht beruflich, so dennoch, was ihre eigenen Wünsche angeht. Doch plötzlich, obwohl für die Entwicklung dankbar, wirkt sie passiv, unterwürfig und versteht sich plötzlich selbst als Opfer; ein Opfer ihrer Sucht. Jegliche Selbstinitiative und Selbstermächtigung sind verschwunden.

Unbestritten finde ich, dass die Autorin einen ansprechenden und anspruchsvollen Schreibstil hat, der diese zumeist deprimierende Geschichte sehr literarisch transportiert. Doch die Geschichte selbst hat in meinen Augen eher weniger Substanz und weniger gesellschaftliche Relevanz, sodass sie letztlich bei mir nicht langfristig verfangen hat und ich den teils recht expliziten Beschreibungen und einer unsympathischen Protagonistin nur widerwillig gefolgt bin.
Autor: Tom Hillenbrand

Was für ein Lesespaß! - 5 Sterne

2088, Europa: Galahad Singh ist Quästor. Seine Arbeit besteht aus der Suche nach vermissten Personen, was im Zeitalter von sogenannten "Cogits" ein durchaus schwieriges Unterfangen ist. Menschen können entweder in den Körpern von Klonen unterwegs sein oder gar "Gefäße" voller anderer Optik verwenden. Hinzu kommt das Holonet, das noch jede Menge optischer Täuschungen generieren kann. Singh soll nun eine vermisste Programmiererin finden, die an sehr heiklen Dingen gearbeitet hat. Ehe es sich Singh versieht, steckt er mitten in einer riesigen Sache drin und die Gegenspieler zeigen übermenschliche Fähigkeiten. Wo ist die Programmiererin hineingeraten und lebt sie überhaupt noch?

Ich bin kein großer Science-Fiction-Leser, einen guten Wissenschaftsthriller lese ich dagegen ganz gern hin und wieder mal. Hillenbrand ist es gelungen, beides auf sehr gelungene Weise miteinander zu verbinden. Ich fand dieses Buch wahnsinnig spannend und flog förmlich durch die Seiten. Von einigen der Grundideen her hat mich das Buch an die Netflix-Serie "Altered Carbon" erinnert, die ich vor Kurzem beendet habe. Im Kern geht es in beiden um die Entkopplung von Körper und Geist. Wie lassen sich Wissen und Erinnerungen extern speichern, damit man sich mehrerer Körper bedienen kann, ohne seinen eigentlich Körper zu beschädigen? Und was kann man dann damit alles machen? Letztendlich geht es dabei auch um die Unsterblichkeit, nach der die Menschheit strebt.
Das Buch lässt sich auch deshalb flüssig lesen, weil viele Erklärungen sehr einfach gehalten sind. Ich war mir auch nicht immer sicher, wie realistisch die Erklärungen und Gegebenheiten waren, aber zugunsten von Spannung und Unterhaltung habe ich mich damit nicht aufgehalten. Vor allem spielt das Buch mit Zukunftsvisionen und -träumen der Menschheit, aber auch mit der Skepsis gegenüber Technik und künstlicher Intelligenz. Während alle gern die Annehmlichkeiten genießen, stellen sich manche die Frage, was und wem sie noch trauen können. Und während die Abhängigkeit von der Technik immer größer wird, stellt sich zunehmend die Frage, was passiert, wenn diese Technik mit ganz eigenen Motiven gesteuert wird.

Die Hauptfigur des Romans ist erfrischenderweise mal kein hochattraktiver, mega-erfolgreicher Jungspund, sondern Singh ist ein Mann mittleren Alters, der eigentlich Erbe eines Milliardenimperiums ist, doch dieses nicht antreten will. Und das in einer Zeit, in der die vom Klimawandel zerstörte Welt eigentlich nur noch von Supernationalen, also rieisigen Konzernen, die sich bis in den Weltraum erstrecken, regiert wird. Interessant ist auch, dass Singh homosexuell ist, das aber absolut natürlich in diesen Roman einfließt, in keinster Weise im Vordergrund steht und auch überhaupt nicht belehrend oder pädagogisch wirkt. Sowieso spielen Sexszenen in diesem Buch keine Rolle, außer dass sie am Rande angedeutet werden und auch hierbei natürlich wirken, ohne dass der Leser dabei das Schlafzimmer betritt und zum Voyeur wird. Das ist eine erfrischende Abwechslung zu vielen anderen Romanen, bei denen man das Gefühl hat, dass immer mindestens eine Sexszene untergebracht werden müsste. Dementsprechend ist auch der "romantic interest" hier eher Nebensache und dient wohl mehr dazu, Sympathien zu weiteren Figuren und ihrem Schicksal aufzubauen. Singhs sexuelle Orientierung beeinflusst zwar dessen Leben, aber bestimmt nicht vordergründig die Handlung des Buches oder die Charakterzeichnung der Hauptfigur.

An manchen Stellen mag die Handlung erst einmal ein wenig verworren wirken, aber die Puzzleteile fallen immer recht bald und vor allem am Ende an ihren richtigen Platz und ergeben Sinn. Und vor allem wird dabei immer der Spannungsbogen aufrecht erhalten. Das offen gehaltene Ende lässt auf eine Fortsetzung hoffen. Also ich wäre sofort wieder an Galahad Singhs Seite.

Hillenbrands Buch "Hologrammatica" hat mich sehr gut unterhalten. Zudem hat es durchaus auch zum Nachdenken angeregt, auch wenn vielleicht nicht alles aus Sicht von Technologen glaubhaft, realistisch oder technisch machbar war. Mir erschien es plausibel genug und "Hologrammatica" ist mein Hochspannungsbuch dieses Frühjahrs, das ich auch gern weiterempfehle.
Autor: Kristine Bilkau

Eine Liebe und das ganze Leben - 4 Sterne

Toni und Edgar scheinen ein Traumpaar zu sein. Toni ist etwas unkonventionell, abenteuerlustig, unabhängig und lebensfroh. Edgar ist davon fasziniert und findet in Toni seiner Meinung nach die perfekte Partnerin, die er bewundert für ihre Eigenschaften, ohne sie selbst zu teilen. Lange führen beide ein scheinbar perfekte Beziehung. Doch Edgar will sich nicht binden, während Toni nichts dagegen hätte. Von Toni dazu ermutigt, tritt Edgar schließlich einen Außenhandelsposten in Hongkong an. Toni soll nachkommen, sobald Edgar sich etabliert und eine Wohnung gefunden hat. Doch ein Jahr lang wartet Toni Monat um Monat und löst schließlich die Verlobung. Rund 50 Jahre später fragt sich Tonis Tochter, die gerade ihre Mutter beerdigt hat und die von ihrer Mutter viele Geschichten über Edgar und die Zeit mit ihm gehört hat, ob ihre Mutter nun gescheitert ist oder ein glückliches, und vor allem das Leben, das sie gewollt hat, geführt hat.

Bilkau zeichnet sehr menschliche Figuren, die einem sehr lebensnah erscheinen. Welches Kind kennt es nicht, dass es den "alten Geschichten" der Eltern wenig Aufmerksamkeit schenkt, weil es nicht interessiert und immer wieder die alten "Kamellen" sind. Auch Tonis Tochter ärgert sich letztlich, nicht genau hingehört zu haben, Details vergessen zu haben und damals nicht begriffen zu haben, welche Gefühle ihre Mutter bewegten. Dennoch war Edgar für sie immer wie ein Schatten, der das Leben ihrer Mutter begleitete. Nun rollt sie die Geschichte anhand der Unterlagen und Briefe ihrer Mutter wieder auf und versucht zu verstehen, was damals passiert ist und ob ihre Mutter einen Abschluss finden konnte oder ewig von den Ereignissen beeinflusst wurde. Es wird nicht besser dadurch, dass Edgar nicht weit entfernt ein Sommerhaus hat und jedes Jahr für eine kurze Zeit in Tonis Nähe wohnt. Nun muss Tonis Tochter ihn, einen für sie völlig Fremden, der ihr aufgrund der Geschichten doch so unendlich vertraut erscheint, bei seinem nächsten Aufenthalt über Tonis Tod informieren. Wie wird er es aufnehmen? Wie wird er sie aufnehmen? Und wird sie von ihm Antworten bekommen? Nicht nur all diese emotionalen und gedanklichen Vorgänge zeichnet Bilkau glaubhaft und nachfühlbar nach, sondern sie fängt auch die Aufbruchsstimmung der 1960er sehr plastisch ein. Die ganze Geschichte über wird einem Edgar nie ganz sympathisch, blitzt doch auch bei ihm immer wieder das damalige Frauenbild durch. Auch wenn er von Tonis Art, Ungezwungenheit und Selbstbewusstsein fasziniert ist, maßt er sich doch immer wieder an, Dinge von ihr fernzhalten und für sie zu entscheiden. Auf die Frage beispielsweise, warum er sie nicht direkt mit nach Hongkong nimmt, antwortet er, das sei nichts für eine Frau und so, wie er momentan lebe, könnte sie nicht leben und würde es ihr nicht gefallen.

"Eine Liebe, in Gedanken" ist eine emotionale Geschichte, die völlig ohne Kitsch und Pathos auskommt. Sie ist nicht rosarot und zuckerwattesüß, sondern realistisch, bodenständig, bittersüß und voller unterschwelligem Herzschmerz. Mir hat die Geschichte gut gefallen, hat mich hineingezogen und mitfühlen lassen, auch wenn sie vielleicht nicht so nachhallt und zum Nachdenken anregt, wie manch andere. Es ist dennoch ein gelungenes Buch über die Wege, die das Leben geht und die Entscheidungen, die wir, mal zum Besseren, mal zum Schlechteren, treffen oder die für uns getroffen werden und mit denen wir uns irgendwie arrangieren (müssen).

Weltkriegsgeschichte mit etwas anderem Ansatz - 4 Sterne

Normandie, Frankreich, 1944: Franz Schneider sollte Teil einer Gegenoffensive werden. Stattdessen sitzt er im Sand und wartet auf seinen Abtransport. Als Kriegsgefangener der Amerikaner. Rund 70 Jahre später geht er mit seinem Enkel auf Spurensuche. Zusammen besuchen sie die alten Stätten der Kriegsgefangenschaft in den USA und langsam erzählt Franz die wahre Geschichte, wie er einen seiner Finger verlor. Auch befasst er sich endlich mit seiner Tochter, die nun selbst im hohen Alter ist und die ihren Vater nicht in guter Erinnerung hat.

"Ein mögliches Leben" hat zwei Hauptthemen. Einerseits geht es um Familien, die Beziehungen untereinander und das Erbe von einer Generation zur nächsten. Jede der vier Generationen der Familie hat ihre eigenen Themen und Probleme im Beziehungsbereich, die meiner Meinung nach nicht zwangsläufig auf den zweiten Weltkrieg zurückzuführen sind, sondern die jede Familie auch mit anderem Hintergrund treffen könnte. Welcher Mensch leidet nicht irgendwo unter den Unzulänglichkeiten der eigenen Eltern. Diese Geschichte zeigt lediglich, wie die einzelnen Figuren geprägt sind von den Verhaltensweisen und Problemen der vorherigen Generationen.
Das zweite Hauptthema des Buches ist die Kriegsgefangenschaft deutscher Soldaten in den USA. Das ist für mich der spannendere Teil, denn mir war nie bewusst, dass die Gefangenen wirklich nach Amerika verschifft wurden. Und auch nicht, dass viele Gefangene auch da noch von Hitlers kurz bevorstehendem Sieg überzeugt waren. Zusammenstöße mit nicht linientreuen Kameraden sind vorprogrammiert. Und so wird die Gefangenschaft zum Albtraum, obwohl es den deutschen Soldaten bei den Amerikanern teilweise erheblich besser geht als an der deutschen Front.
Franz bleibt die ganze Zeit eine zwiespältige Figur, aber dadurch immer besonders glaubwürdig. Martin ergänzt ihn gut, wenn auch meist nur als Nebendarsteller. Erzählt wird die Geschichte in drei großen Abschnitten. Zunächst verfolgt man die Reise durch Amerika und was diese an Erinnerungen aufdeckt. Anschließend rollt Franz' Tochter die weiteren Ereignisse mit Hilfe von alten Dokumenten auf. Und schließlich füllt eine Rückblende in die 1940er die Lücken. Mich hat lediglich der Sprung zwischen der Reise und der Tochter gestört, da er sehr abrupt war.

Insgesamt habe ich die in vielen Rezensionen angedeutete Auswirkung der Geschichte auf die familiären Beziehungen so nicht gefunden. Die Familiengeschichte hätte meiner Meinung nach vor jeder Kulisse stattfinden können. Der historische Teil selbst hat mich aber sehr gefesselt und mir noch einmal einen neuen Blickwinkel auf ein viel behandeltes Thema ermöglicht. Hier habe ich richtiggehend mitgefiebert. Man merkt die intensive Recherche und noch mehr Eindruck macht die Geschichte durch die Tatsache, dass sie auf Zeitzeugenberichten aufbaut. Franz' Alter macht auch deutlich, dass es diese bald nicht mehr geben wird. Für mich ein insgesamt gelungenes Buch.