Rezensionen

Rezensionen von Manfred Angerer

Autor: Meier, Simone

Sehr nette Kulturgeschichte - 4 Sterne

Eine sehr ansprechende "Kulturgeschichte" aus dem vorletzten Jahrhundertwechsel mit interessanten Blicken hinter die Kulissen der nun berühmten Maler, vor allem Vincent van Gogh. Gleichzeitig auch etwas enttäuschend, denn meine Erwartung war, mehr über Van Gogh zu erfahren und nicht unbedingt über die Liebesgeschichte zwischen seinem Bruder Theo und der Protagonistin, seiner Schwägerin Jo. Das Buch gibt aber einen sehr feinen Einblick in das damalige Alltagsleben einer gewissen begüterten Schicht und entzaubert vermutlich verschiedene Geschichten über die damalige Zeit.
Autor: Gaea Schoeters

Grandios - 5 Sterne

Grandios die Erzählung über die Empfindungen des Protagonisten beim Ausleben seines Jagdtriebes, im Geschäftsleben und in der Tierwelt.

Grandios die Beschreibungen aus der Welt der Stammesbewohner, deren Kenntnis über die Natur, ihre Sicht der Zusammenhänge zwischen den Lebewesen, und ihre eigene Gelassenheit, resultierend aus ihrem Glauben an ihre Götter, ihren Platz in der Natur und in ihrem Stammesgefüge mit ihren spirituellen Ritualen.

Grandios die Beschreibung von Fauna und Flora in den afrikanischen Landschaften, die fantastische Bilder in meinem Kopf entstehen haben lassen.

Grandios vor allem aber das subtile Hinführen zu dem, was ich als Kern des Romanes zu erkennen glaube; nämlich die (moralische) Frage, ob oder inwieweit es gerechtfertigt ist, das Töten einzelner Lebewesen zu „verkaufen“, um die Population dieser Lebewesen zu stärken. Wenn ja, wo liegt die Grenze für die (lukrative) Befriedigung des Jagdtriebes eines Einzelnen? Beim „Kauf“ von Großwild, um (nach Abzug von „Schmiergeld“) Mittel für den Schutz der restlichen (Tier)Population vor Wilderern zu lukrieren? Bei der Vereinbarung der Jagd auf einen einzelnen Menschen, um damit seiner Dorfgemeinschaft als Gesamtes Mittel zur Aufrechterhaltung der eigenen Lebensweise und für Einzelne aus dieser Gemeinschaft ein besseres Fortkommen zu ermöglichen?

Gaea Schoeters gelingt es grandios, in mir konstant das Spannungsverhältnis zwischen der Abscheu vor dem, was ich als Nächstes vermute, und der Neugier auf das, was dann tatsächlich kommt, aufrecht zu erhalten und dabei – mit den subtilen Erklärungen - ein Verständnis für die jeweiligen Handlungsstränge zu wecken; dies bis zu den letzten Zeilen.
Autor:

"Familienepos" der anderen Art - 4 Sterne

Ein etwas anderes „Familienepos“ über 4 Generationen; diesmal über Frauen aus der Zeit von vor dem 2. Weltkrieg bis jetzt, diesmal nicht aus dem Landadel, Geldadel, Industrieadel oder der Welt der Schönen und Reichen, nein, diesmal aus der Welt von ganz normalen Menschen.

Das Buch zeigt eindrücklich und gut verständlich Auswirkungen von belastenden Erlebnissen oder Traumata über die Generationen hinweg bei Kindern und Enkelkindern, wenn diese „Packerln“ nicht aufgearbeitet, sondern quasi ungefiltert an die Kinder weitergegeben werden. In gewisser Hinsicht ist dieses Buch auch eine „Fundgrube“ für psychische Belastungen in Familiensystemen.

Die Erzählungen sind sehr dicht ge-und beschrieben, sie haben mich dazu gebracht, das Buch immer wieder wegzulegen und dem nachzuspüren, was ich gerade gelesen habe. Denn vieles von dem hat mich an ähnlich Erlebtes erinnert, das ich erst einmal nachklingen lassen wollte.

Leider unterbricht die von der Autorin gewählte Technik der bruchstückhaften Erzählungen aus verschiedenen Perioden anstelle längerer zusammenhängender Handlungsstränge meinen Lesefluss und das tiefere Einfühlen in die einzelnen Erzählungen. Auch fehlt mir eine stärkere Einbindung der „Packerl“ der Männer/Väter in die jeweiligen Episoden, um das Verhalten und die Reaktionen der Frauen/Mütter besser verstehen zu können.

Der Roman enthält daneben auch eine Art Kulturgeschichte über die verschiedenen Epochen mit vielen sehr berührenden Alltagsschilderungen, deren Umfeld ich (Jahrgang 1956) teils selbst erlebt habe. Diese vielen Alltagsgeschichten, die das Leben und Empfinden der Protagonistinnen mit der Last ihrer „Packerln“ in den jeweiligen Zeitabschnitten schildern, sind in meinen Augen auch eine Bereicherung für das Verständnis des Hier und Jetzt; denn es erklärt so Manches, was jüngeren Menschen bei Älteren eigenartig erscheint.

Deshalb: sehr empfehlenswert
Autor: Cullen, Lynn

Kampf gegen Polio und mehr - 5 Sterne

Auf einer Erzählebene schildert Lynn Cullen die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte der Erforschung und Entwicklung der Impfung zum Schutz vor Polio, an der Dr. Dorothy Horstmann federführend beteiligt war. Diese Ebene des Romanes beinhaltet die verschiedenen Ansätze zur Entwicklung des Impfstoffes, das wissenschaftliche Wettrennen zu diesem Thema, streift mit viel Empathie kurz Tierversuche hierüber, schildert das für viele Menschen letale Ergebnis der ersten Versuchsreihe an ihnen, weil der Impfstoff kostengünstig und nicht mit höchster Qualität hergestellt wurde und erwähnt am Ende fast nebenbei, dass der Impfstoff in der uns derzeit bekannten Form trotz des damals „kalten Krieges“ zuerst an gut 70 Millionen Einwohnern der (damaligen) Sowjetunion verteilt und erst dann, nach Vorliegen der positiven Ergebnisse, begonnen wurde, diesen im „Westen“ großflächig zu verabreichen.

Diese Ebene ist durchaus spannend und informativ geschrieben, ich hätte mir aber etwas mehr (populär)wissenschaftlich aufbereitete Sachinhalte gewünscht.

Auf einer zweiten Ebene schildert dieses Buch sehr beeindruckend und berührend die (nur damalige?) Dominanz von Männern auch im Wissenschaftsbereich und die Reduktion der Bedeutung von Frauen auf Haushaltsführung und Kinderkriegen, auch wenn sie wissenschaftlich ihren Kollegen ebenbürtig oder überlegen sind. In diesem Kontext schildert Lynn Cullen auch die unterschiedlichen Antriebe der Forschenden zum Verständnis der Virusinfektion und der Entwicklung eines Impfstoffes; bei den Männern steht wohl das Konkurrenzdenken im Vordergrund, wer den Impfstoff schneller entwickelt und den Nobelpreis erhält, bei den Frauen steht eher das kooperative Engagement (auch über alle beruflichen Ebenen hinweg) im Vordergrund, einen Impfstoff zu entwickeln, mit dem Polio erfolgreich beseitigt werden kann. Zur Aktualität dieses Themenkomplexes der "Männerdominanz" auch nach Jahrzehnten der Emanzipation genügt ein kurzer Blick auf die auch bei uns immer noch präsente Gewalt gegen Frauen, vorwiegend durch Männer ohne Migrationshintergrund, auf die Unterdrückung von Frauen in anderen Kulturkreisen auch in unserer nächsten Umgebung, auf das Verhalten narzisstischer Männer in der großen Weltpolitik und deren Auswirkungen für uns alle, aber auch auf die abwertende Wortwahl von lokalen Politikern, die öffentlich ankündigen, ein weibliches Regierungsmitglied wegen Unzufriedenheit mit ihrer Regierungstätigkeit im lokalen Parlament „herprügeln“ zu werden.

Auf einer dritten Ebene blendet die Autorin immer wieder die Beziehung zwischen Dr. Horstmann und ihrem früh an Gehirnhautentzündung erkrankten und deshalb geistig zurückgefallenen Vater ein, der ihr offenbar mit seiner „kindlichen“ und unverfälschten Empathie Kraft gibt, bis zu seinem Lebensende. Damit wirft Lynn Cullen auch die Frage auf, was im Leben alles zählt und Kraft gibt, neben Ruhm und Erfolg.

Aus dieser Vielfalt heraus haben sich für mich viele Passagen ergeben, die mich zum Innehalten, Nachdenken und Nachspüren gebracht und damit bereichert haben.

Unbedingt empfehlenswert


Autor: Philipp Oehmke

Grandios - 5 Sterne

Eine Familiengeschichte als toller und spannend zu lesender Mix aus dem, was die Mitglieder der Familie Schönwald nach außen darstellen und dem, was unter den „Teppich“ gekehrt worden ist, dort keinen Platz mehr findet und an vielen „Ecken und Enden“ hervorquillt.

Ein Streifzug durch eine Vielzahl von Themen aus Bereichen der „Familientherapie“, garniert mit Ereignissen aus dem Weltgeschehen und so hautnah serviert, dass manch Leser:in vielleicht im einen oder anderen Aspekt ein klein bisschen von sich selbst oder seiner eigenen Geschichte erkennen könnte.

Philipp Oehmke schildert die verschiedenen Lebensgeschichten der Familienmitglieder und deren Partner:innen detailgenau auch im jeweiligen sozialen und teils auch geschichtlichen Umfeld; dies in einer klaren Sprache, die mir deutliche Bilder im Kopf erwecken und mich zumeist auch emotional in die jeweils geschilderte Situation eintauchen lassen. Dass die einzelnen Geschichten so manche Reflexion auf eigene Lebenssituationen auslösen dürften, ist vermutlich nicht ganz zufällig.

Einmal begonnen, kann das Buch nicht einfach zwischendurch weggelegt werden, dazu liest es sich zu spannend und macht nach jedem Kapitel neugierig, was als nächstes kommt.

Grandios und unbedingt lesenswert.
Autor: Nicola Upson

Für ein gemütliches Lesewochenende - 3 Sterne

Ein durchaus nett geschriebener Krimi, der uns in die Welt von St. Michaels Mount (nicht Mont-Saint-Michel in der Normandie!) eintauchen lässt. Passt gut für ansprechende Unterhaltung auch an einem verregneten oder - besser - verschneiten Wochenende. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Autor: Jarka Kubsova

2 Frauenschicksale - 4 Sterne

Zwei Frauen, die sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden wollen.

Das (historisch weitgehende belegte) Leben von Albeke Belken , der Bäuerin im ausgehenden 16. Jahrhundert, die durch eine Flut und Mobbing letztlich verarmt ist und ihre faktische Enteignung nicht hinnehmen will, endet mit Folter, einer „Gerichtsverhandlung“ und schließlich als Hexe auf dem Scheiterhaufen.

Das Leben von Britta, der Akademikerin als haushaltsführende Ehefrau und Mutter von 2 Kindern in der Jetztzeit, führt über die von ihr gewollte Scheidung mit den „üblichen“ wirtschaftlichen Folgen und Einschränkungen letztlich zu mehr Freiheit, Gestaltungsmöglichkeit und Selbstbestimmung.

Das Verbindende zwischen beiden Schicksalen ist der gleiche Ort der Handlung, die Marschlande in der Nähe von Hamburg, und die Neugier von Britta, das Schicksal von Albeke zu erkunden, was ihr weitere Dimensionen in ihrem Leben aufzeigt.

Leider habe ich den Roman eher als Unterhaltungslektüre zu lesen begonnen und mich dabei an einigen Passagen, die mir vieles im weiteren Text bereits deutlich vorhersehbar erscheinen haben lassen, gestoßen. Auch wollte ich mich nicht tiefer auf die bedrückenden und beklemmenden Schilderungen einlassen, wie „Mobbing“ Ende des 16. Jahrhunderts gezielt bis zur Folter und dem Scheiterhaufen betrieben wurde. Erst das Nachwort und die dort offengelegten historischen Zusammenhänge haben mir die Dimension und subtile Wucht der Erzählung eröffnet.

Deshalb auch die Empfehlung, nach den ersten Absätzen im Buch das Nachwort zu lesen. Dass Albekes Leben am Scheiterhaufen enden wird, war sehr bald klar. Das Warum und die historischen Hintergründe hierfür geben dem Buch beim Lesen erst die Dimension, die ihm gebührt.
Autor: Anthony Mccarten

Versteckenspiel mit Lerneffekt - 5 Sterne

Ist Going Zero ein frei erfundener Roman, in dem "jede Ähnlichkeit mit realen Ereignissen, Schauplätzen, Organisationen oder Personen rein zufällig und unbeabsichtigt" wäre (Zitat Klappentext)?

Mitnichten. Viele auffallend übereinstimmende Medienberichte in den letzten Jahren über die Möglichkeiten der IT auch und vor allem in Staatengebilden mit dem besonderen Bedürfnis, die eigene Bevölkerung vor schädlichen internen und/oder externen Einflüssen zu schützen, führen die Gedanken in die andere Richtung.

Die fast unendlichen Möglichkeiten zum Aufspüren und zur Überwachung von Individuen sind in Going Zero in einen von Anfang an spannenden und eher "sportlich" angelegten Wettkampf fast ohne Leichen verpackt. Die in Medien kommunizierten tatsächlichen oder hintergründigeren Ziele einer fast lückenlosen Überwachung der Bevölkerung in der realen Welt führen aber zu deutlich anderen Auswirkungen für die Betroffenen. Und von den Möglichkeiten des Darknets ganz zu schweigen

Neben der rasanten und spannenden Erzählung enthält die Story von Going Zero viele praktische Hinweise, wie sich jeder Einzelne zumindest etwas vor dem Risiko der ständigen Überwachung schützen kann, wie zB. das Trennen des Smart - TV vom Stromnetz durch einen eigenen Schalter, beim Verwenden von Kreditkarten und bargeldlosem Zahlungsverkehr, das Bewusstsein, dass dies Transaktionen nachverfolgt werden können, die Achtsamkeit darauf, wo überall Überwachungskameras uns im Alltag „begleiten“, und das Bewusstsein, das die Nutzung des Internet (bei einem historischen Vergleich) wohl eher dem Versenden einer Postkarte gleichzusetzen sein dürfte als einem zugeklebten Brief. Auch könnten wir uns überlegen, ob es den einen oder anderen tieferen Grund dafür gibt, dass mit ganz wenigen Ausnahmen die Akkus in unseren Mobiltelefonen seit einigen Jahren fix eingebaut sind, deshalb nicht mehr leicht entfernt und die Geräte nicht mehr auf diese einfache Art und Weise stromlos gestellt werden können.

Ein fesselnder Roman mit einigen unerwarteten Wendungen, die den Spannungslevel hochhalten, und der uns etwas andere Betrachtungsmöglichkeiten für so manche durch die IT geschaffenen neuen Lebens- und Verhaltensweisen im Alltag nahelegt.
Autor: Annika Reich

Großmutter Superfrau - was bleibt davon? - 3 Sterne

Eine übermächtige Großmutter hält in ihrem großzügigen Anwesen mit Häusern für jedes Familienmitglied ein Familiensystem nach ihren Wertvorstellungen zusammen, offenbar ohne Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse ihrer Kinder und Enkelkinder.

Männer können in diesem Roman nicht sterben, weil sie überhaupt nichts zu sagen haben und das System verlassen (müssen), Kinder „verhungern“ emotional oder haben ebenfalls keinen Platz in diesem System, wenn sie nicht den Vorstellungen der Großmutter entsprechen.

Für die Großmutter dürfte diese „Herrscherrolle“ und das strikte Einhalten von Regeln ungeachtet der tatsächlichen Bedürfnisse der Kinder notwendiger Lebensinhalt sein, ohne den sie ihre Identität verlieren würde. Mit ihrem Tod bricht dann vieles auf und bald darauf das ganze Anwesen wirtschaftlich zusammen.

Was bleibt von ihren materiellen und ideellen Werten in den/für die nächsten Generationen?
Autor: Birnbacher, Birgit

Dörfliche „Idylle“, betrachtet von innen und außen - 4 Sterne

Julia, so um 35 Jahre alt, Krankenschwester, wird vom Schicksal heftig mit Asthma und einem Jobverlust nach einem Behandlungsfehler gebeutelt und zieht in ihr Heimatdorf ins Innergebirg zu ihrer Herkunftsfamilie. Ihr Vater ist weiterhin verschlossen, ihre Mutter vor ihm nach Sizilien geflüchtet; und da gibt es noch den körperlich und geistig behinderten Bruder. Damit nicht genug sind einige der älteren Bewohner des Dorfes nach einer Insolvenz eines Industriebetriebes auf der (Dorf)Strasse gelandet und saufen sich durch die Vorräte des Dorfwirtes, der offenbar selbst einer seiner besten Gäste ist. In einer nahegelegenen Reha-Anstalt kuriert der „Städter“ Oskar, ein Beamter im Amt für Vermessungswesen, seinen Herzinfarkt (bezeichnet als „Luxusinfarkt“) und hat das zusätzliche Glück, für ein Jahr ein bedingungsloses Grundeinkommen zu beziehen. Und dann spielen da noch ein Restaurator und eine Ziege, die er beim Kartenspielen vom Dorfwirt gewonnen hat, herein.

In dieses Gemengelage an Charakteren und Lebensgeschichten führt uns BIrgit Birnbacher primär aus der Sichtweise der verunsicherten Julia und daneben untergeordnet aus dem Blickwinkel von Oskar, durch die dörfliche Idylle. Während Oskar ins Handeln kommt, bleibt Julia zögerlich und eher verschlossen.

Was die verschiedenen Geschichten hervorhebt sind die oftmals überraschenden Wendungen, geschaffen mit kurzen Sätzen, die mit wenigen Worten Bilder kreieren, für die in anderen Büchern oft viele Seiten erforderlich sind; meisterlich!

Getragen ist der Roman auch von Julias Bedrücktheit und ihrer Angst, Unterstützung und/oder die wohlwollende Nähe Anderer anzunehmen.

Die Geschichte endet etwas überraschend und erweckt den Verdacht, der Autorin könnten die Ideen ausgegangen sein; oder hat sie das Ende bewußt so offen gewählt, um die Fantasie der Leser:innen zu ihrem Buch wachzuhalten, auch wenn der Buchdeckel bereits vor vielen Tagen geschlossen worden ist?