Rezensionen

Rezensionen von HEYN Leserunde H. Schellander

Autor: Simone Meier

Nur halb entflammt - 3 Sterne

Die Geschichten von Vincent van Gogh und seinem ihn unterstützenden Bruder Theo sind mir bekannt. Doch über Theos Gattin Jo van Gogh-Bonger wusste ich bisher nichts. Dabei war sie es, die nach dem Tod der beiden das revolutionäre Werk Vincents durch unermüdlichen Einsatz erst weltberühmt machte. Die Schweizer Autorin und Kulturjournalistin Simone Meier entwirft für ihre Doku-Fiction teils gelungene Sprachbilder, die im Gedächtnis bleiben, vor allem im historischen Teil. Der Titel „Die Entflammten“ könnte auch für die reale Autorin Meier passen, die im Roman die Kunststudentin Gina auf Stoff-Recherche gehen und immer mehr mit Jo zusammen wachsen lässt. Diese in der Gegenwart spielenden Passagen einer parallelen Familiengeschichte wirken für mich etwas zu aufgesetzt und vor allem am enttäuschenden Ende zu lang. Letztlich klappte ich das Buch nur halb entflammt zu.
Autor: Gaea Schoeters

Grenzüberschreitung der Komfortzone - 4 Sterne

Hab‘ ich das geträumt? Oder hab‘ ich es tatsächlich gelesen? Wem fällt so eine Geschichte ein? Und wer kann diese so schreiben, dass ich mir fassungslos fasziniert zuschaue, wie ich in diesem Herz der Finsternis gefangen werde. Und letztlich eine Leser-Trophäe der niederländischen Autorin Gaea Schoeters bin. „Die westliche Moral ist ein Luxusprodukt, das man sich leisten können muss.“ Dieser Satz, der mir etwa in der Mitte des Buches sauer aufstösst, fordert mich Seite für Seite heraus, bis ich ihn - widerwillig - verstehen kann. Afrika und der Westen sind beides Traum und Albtraum zugleich … so wie dieser Roman, zu dem ich ohne Heyn-Leserunde schon des Jagd-Themas wegen niemals gegriffen hätte, den ich nach der Lektüre aber als Grenzüberschreitung der eigenen Komfortzone empfehlen kann.
Autor: Anna Neata

Stilistisch und inhaltlich herausragend - 5 Sterne

Wo hat Anna Neata nur so schreiben gelernt? Diese Frage stellt sich mir schon im ersten Kapitel ihres Debütromans Packerl. Und erst recht, nachdem ich das ganze Buch gelesen hatte. Von den 1940ern bis ins Hier und Jetzt spannt die Autorin die Geschichte Österreichs anhand dreier Frauen - Oma, Mutter und Enkelin - auf, die alle ihr Packerln zu tragen haben. Und damit ist nicht nur die schon auf den ersten Seiten angesprochene Krankheit namens Depression gemeint. Stilistisch herausragend und einzigartig, inhaltlich fesselnd - muß mann und frau gelesen haben. Und die Antwort auf die oben stehende Frage? Anna Neata hat Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien studiert.
Autor: Cullen, Lynn

Zu viel Geplapper - 3 Sterne

Für mich ein Beispiel, wie ein interessanter Stoff für einen Roman vergeigt werden kann. Immerhin entreißt die Autorin Lynn Cullen die Virologin und Klinikerin Dr. Dorothy M. Horstmann dem Vergessenwerden. Von den 40er bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts widmete sich Horstmann mit Leib und Seele dem Kampf gegen die weltweit wütende Kinderlähmung. Trotz entscheidender Entdeckungen heimsen die männlichen Wissenschafter die Lorbeeren ein - eine Story, wie sie im Buch „Eine Frage der Chemie“ schon mitreißender erzählt wurde. In "Die Formel der Hoffnung" dauern die Hahnenkämpfe und Beziehungsgeschichten endlos. Zu viel Geplapper - manche Dialoge klingen wie aus einem Schnulzenroman - auf zu viel Seiten deckt für mich das bewegende Thema zu.
Autor: Nicola Upson

Oh what a Christmas Crime! - 3 Sterne

Eine ganze Krimiserie der britischen Autorin Nicola Upson in deutscher Fassung kommt ab Oktober auf uns zu. Als „Appetizer“ durften wir „Mit dem Schnee kommt der Tod“ (Originaltitel „The Dead of Winter“) vorab lesen - ein „Christmas Crime“, das vor allem von zwei interessanten Hauptdarsteller*innen lebt: Einmal St. Michael’s Mount, eine Gezeiteninsel an der Südwestspitze Englands, die mit Hafen, Dorf, Schloss und Kirche (mit speziellem Turm) ein detailreich beschriebenes und eingesetztes Ambiente für diesen Krimi hergibt. Und dann Marlene Dietrich (ja, DIE Dietrich), die knapp vor Ausbruch des II. Weltkrieges einen großzügigen Betrag für den von der Hausherrin gegründeten Fonds für jüdische Flüchtlingskinder aus Deutschland spendet und als Dankeschön zum Weihnachtsfest mit zwölf anderen Gästen auf den abgeschiedenen Adelssitz eingeladen wird. Es passieren von Anfang an genug Morde, einer davon fast wie beiläufig, und die Auflösung ist durchaus mit einem großen Fragezeichen zu versehen. Doch insgesamt schafft die Autorin eine dichte Atmosphäre mit feinen Charakteren, sodass ich als Nicht-Krimileser vielleicht doch zu einem weiteren Buch dieser Serie greifen würde.
Autor: Philipp Oehmke

Verloren im Buchstabenwald - 3 Sterne

Ganz schön dicht ist dieser Wald an Geheimnissen, Vertuschungen und (un)erfüllten Hoffnungen, in dem die Familie Schönwald im gleichnamigen Debütroman von Philipp Oehmke herumirren muß. Dem Autor merkt man an, dass er sich als Spiegelredakteur u.a. auf Politik und Popkultur (Tote Hosen) spezialisiert hat. Das und unsagbar viel mehr kommt in diesem Roman zur Sprache. Alles sehr am Punkt der Zeit, gesellschaftskritisch, unterhaltend und durchaus in manch’ gelungene Szene verpackt. Doch für mich bleibt das Reportage, die zudem im (angelesenen?) Psychologen-Literaturwissenschafts-Sprech stecken bleibt. Die zahlreichen Haupt- und Nebenfiguren, die trendigen Schauplätze, das Finale wirken mir zu konstruiert und hängen mich im Buchstabenwald ab. Schön, dass es vorbei ist.
Autor: Kubsova, Jarka

Überwindung zum Hinschauen - 5 Sterne

Am Ende des zweiten Drittels wollte ich dieses Buch endgültig nicht mehr weiterlesen und habe es für eine Woche weggelegt. Es war mir einfach zu viel der unentrinnbaren Hoffnungslosigkeit. Zwei Frauen, Abelke im 16. und Bettina im 21. Jahrhundert, erleiden in den Marschlanden bei Hamburg Schicksale, die nur auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Hexenjagd dort, „modernes“ Frauenleben hier. Jarka Kubsova verknüpft die beiden Geschichten und spitzt sie so zu, bis es mir eben fast reichte. Zum Glück nahm ich den Lesefaden wieder auf. Denn im letzten Drittel und dem Nachwort schwingt sich die detaillierte Darstellung der Einzelschicksale zu einer Zustandsbeschreibung der Welt auf. Die ist heute so geworden, weil es damals so war, vermittelt die Autorin. Die Männer kommen schlecht weg dabei. Auch sie sollten sich überwinden und diesen Roman lesen. Frauen werden es sowieso tun. Dafür, dass sich wirklich etwas ändert an den Machtstrukturen und dem Miteinander, müssen wir uns alle einsetzen, gleich welchen Geschlechts. Die Autorin hat Wesentliches dazu schon beigetragen, in dem sie Geschichte neu schreibt, uns die Augen öffnet und zum Hinschauen auffordert.
Autor: Anthony Mccarten

Atemberaubendes Kopfkino - 5 Sterne

„Wenn die Wahrheit klingt wie eine Wahnvorstellung, was zum Teufel soll man dann machen?“ Das fragt sich Kaytlin Day, die mitten in einem Experiment steckt, in dem die US-Regierung ihre neuen Werkzeuge zur Massenüberwachung testet. Und das frage ich mich auch als Leser, denn Science Fiction ist das leider schon lange nicht mehr, was Anthony McCarten in seinem Roman Going Zero beschreibt, sondern Alltag. Es geht um die Manipulation ahnungsloser Bürger, um den Übergang von der Überwachung durch den Staat zur Steuerung, „das letzte Kapitel in der langen Geschichte der Demokratie, der freie Wille verformt zu bedingungslosem Gehorsam.“ (S 232) Wie der oscargekrönte Drehbuchautor diesen Alptraum als Count- und Showdown beschreibt, das gehört zum Atemberaubendsten, was ich seit langem gelesen habe. Der aktuelle Stoff mit seinen bemerkenswerten Haupt- und Nebenfiguren reicht für mehrere Thriller-Staffeln. Angeblich stehen die Hollywoodstars schon Schlange, um eine Hauptrolle zu ergattern. Mir reicht vorerst das Kino im Kopf - das erzeugt schon genug beunruhigende Bilder.
Autor: Annika Reich

Eine schiefe Geschichte - 3 Sterne

Schon beim sehr ansprechenden Buchcover muss ich mehrmals hin schauen und nach recherchieren: Das darauf abgebildete Stillleben stammt nicht von einem alten Meister, sondern von der Fotografin Paulette Tavormina. Auch in Annika Reichs Roman „Männer sterben bei uns nicht“ ist nichts so, wie es scheint. Die titelgebenden Männer sind in der Geschichte schmerzlich abwesend und bestimmen das Geschehen doch entscheidend mit. Sie bleiben in einer diffusen Grauzone, wie viele der weiblichen Gestalten auch. Herausstechend sind die Ich-Erzählerin Luise und ihr alle und alles beherrschende Großmutter, die ihr Anwesen „patriarchalisch“ führt. Sie schart lauter in irgend einer Weise beschädigte Frauen um sich und schließt jene aus, die nicht parieren. Unversehrt bleibt keine, oder letztlich doch? Eine ziemlich „schiefe“ Geschichte, um ein Lieblingswort der Autorin zu benutzen, die mich interessiert aber nicht ergriffen hat.
Autor: Birnbacher, Birgit

Sätze zum Einrahmen - 5 Sterne

Die unaufgearbeitete, komplexe Familiengeschichte lastet schwer auf Lunge und Herz der Ich-Erzählerin. Asthma „knapp vor dem Sauerstoff“ und bevorstehende Arbeitslosigkeit treiben sie zurück ins Elternhaus, ins Innergebirg. Dort will sie umsorgt werden, doch die Mutter ist nach Sizilien abgehauen und der Vater hilflos verwaist. Wird es der Protagonistin gelingen, aus vorgegebenen Frauenrollenbildern und dem erwarteten Pflichtbewusstsein auszubrechen und ihren eigenen Weg zu gehen? Was bestimmt, wie und wovon wir leben? Birgit Birnbacher, Bachmann-Preisträgerin 2019, erweist sich ihrer Wahl als würdig und begeistert mich mit starkem Erzählfluss, überraschenden Wendungen und einigen Sätzen, die ich mir am liebsten rahmen lassen möchte.