Rezensionen

Rezensionen von Petra Gruber

Autor: Mareike Fallwickl

Was passiert, wenn die Frauen einfach nicht mehr mitmachen - 5 Sterne

Mareik Fallwickl ist eine Autorin, die dorthin schaut, wo es weh tut. Sie sieht sich die Erschöpfung und Müdigkeit der Frauen an, die durch ihre vielen unbezahlten Tätigkeiten, die sie zusätzlich zur Erwerbsarbeit, auf ihren Schultern tragen, ganz oft am Limit sind. Aber sie verliert auch nicht den Blick für andere, ausgebeutete Gruppen, Migrant:innen, prekär arbeitende, Menschen ohne Lobby.
In „Und alle so still“ erzählt sie von einem Gedankenexperiment. Was passiert, wenn die Frauen einfach aufhören, den Laden am Laufen zu halten.
Es beginnt ohne Ankündigung, ohne Aufruf, leise. Eines Tages liegt eine Gruppe von Frauen vor dem Krankenhaus. Ganz still, ohne Banner, ohne Slogans. Sie liegen nur ruhig da. Und keine weiß, wie es begonnen hat. Die Aktion weitet sich aus. Es werden immer mehr Frauen. Sie verlassen ihre Häuser, bleiben bei einigen, die ihre Häuser zur Verfügung stellen, versorgen sich gegenseitig, aber nicht mehr die Männer und die ganze Gesellschaft.
Erzählt wird chronologisch von Freitag bis Freitag, wir hören mehrere Erzählstimmen. Elin, eine junge Frau und Influencerin, die sich einsam fühlt. Erzogen von ihrer feministischen Mutter wurden ihr Unabhängigkeit und Freiheit gegeben, doch sie fühlt sich wurzellos. Ihre Großmutter Iris, zu der es keinen Kontakt gibt, ist eine der ersten Frauen, die sich einfach hinlegt und aufhört zu funktionieren. Auch sie ist eine der Erzählstimmen. Ruth, Elins Tante, ist Krankenschwester. Bislang wusste Elin nichts von ihrer Existenz, jetzt lernen sie sich kennen. Ruth hat sich aufgeopfert, hat ihren behinderten Sohn gepflegt bis zu seinem Tod, gibt jetzt alles in ihrem Beruf. Gedankt wurde es ihr selten. Dass sich die Schwester abgewendet hat tut weh. Auch Nuri, hier geboren, Sohn einer migrantischen Mutter und eines Vaters, der sich kaputt gerackert hat und der keine Gefühle zeigt. Er ist Schulabbrecher, arbeitet in prekären Jobs, um den Absprung aus seinem lieblosen Elternhaus zu schaffen.
Dieser Roman ist einfach großartig gemacht, perfekt konstruiert, auch sehr realistisch erzählt. Genau so könnte es sein, wenn die Frauen aufhören zu funktionieren. Sehr einfühlsam beschrieben ist die Müdigkeit, die Erschöpfung von allen, die sich kümmern, die wie Nuri versuchen, ihr Leben zu verbessern. Das ewige schlechte Gewissen, weil es nie genug ist, nie schaffbar.
Von mir gibt es eine begeisterte Empfehlung. Das Buch macht auch Mut, Mut, dass sich Frauen solidarisieren, sich gegenseitig unterstützen, zusammenhalten. Ein spannendes Thema, wunderbar umgesetzt.
Autor: Scott Alexander Howard

Wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig existieren - 4 Sterne

Stellt euch vor, ihr wohnt in einem Tal und in den Nachbartälern gibt es den gleichen Ort. Nur getrennt durch einen Zaun, einen Wald, einen Berg. Im eigenen Tal herrscht die Gegenwart und in den Nachbartälern ist es 20 Jahr früher und auf der anderen Seite 20 Jahre später. Was für eine Vorstellung.
Die Grenzen sind streng bewacht, für Ordnung sorgt das Conseil. Aber es gibt Ausnahmegenehmigungen. Ab und zu darf jemand die Nachbartäler besuchen, um noch einmal einen geliebten verstorbenen Menschen zu sehen, um die Enkelin kennenzulernen, die man nicht mehr erleben wird. Nicht jedes Gesuch wird genehmigt, das Risiko für Störfälle ist groß.
Die Besucher sind durch schwarze Masken anonymisiert und doch kommt es immer wieder vor, dass sie erkannt werden. Angst und Unruhe erzeugt ihr Auftauchen sowieso immer, denn jeder weiß, was es bedeutet und fragt sich, für wessen Tod sie wohl die Vorboten sind.
Odile ist eine junge, schüchterne Frau. Intelligent, aber sie hat Schwierigkeiten, Kontakte zu knüpfen. Ihre Mutter ist eine verbitterte Frau, von der wenig Zugewandtheit und Empathie kommt. Sie will, dass sich Odile für eine der wenigen Stellen im Conseil bewirbt. Nur das scheint ihr wichtig zu sein. Als sie eines Tages zwei der Masken sieht und sie auch noch als die Eltern eines Freundes erkennt, bringt das ihr Leben durcheinander.
Es ist ein autoritäres, frauenfeindliches System. Man muss sich an die Regeln halten, darf nicht zu viel hinterfragen.
Dieser Roman ist ein spannendes Gedankenexperiment, wie viel Freiheit gibt es oder ist ohnehin alles vorherbestimmt? Wie sehr kann man sich einem System unterordnen? Gibt es einen Leidensdruck, der einen mutig macht?
Ich fand den Roman sehr spannend, vor allem der erste Abschnitt hatte einen starken Sog. Dazwischen hatte er allerdings Längen. Und das sehr gelungene Ende kam mit der (ziemlich vorhersehbaren) Wendung sehr spät. Ich hatte ein wenig den Eindruck, der Autor wollte die Spannung künstlich in die Länge ziehen. Zumindest bei mir ist ihm das nicht ganz gelungen.
Ein lesenswerter Roman, eine interessante Idee, teilweise sehr spannend geschrieben. Kein Lieblingsbuch, aber ein Buch, das ich gerne gelesen habe.
Autor: Luca Ventura

Der fünfte Fall - 5 Sterne

Der blaue Salamander ist eigentlich eine Eidechse, die es nur auf einem Felsen vor Capri gibt. Sie hat sich zur Tarnung der Farbe des Felsen angepasst und in Mondnächten kann man sie blau leuchten sehen. Die blaue Salamander ist eine Tasche, von der es nur wenige Exemplare gibt, angeblich gefertigt aus der Haut dieser Eidechse. Doch was hat eine sagenumwobene Tasche mit dem Tod von Rosalinda Fervi zu tun?
Die Aufregung auf Capri ist groß, als sie ermordet im Beichtstuhl der Kirche gefunden wird. Schnell findet die Mordkommission aus Neapel einen Verdächtigen, den Straßenkehrer Salvatore. Doch Rizzi ist überzeugt, der oder die Mörderin laufen noch frei herum. Er und seine Kollegin Cirillo machen sich auf die Suche.
Zum fünften Mal ermittelt der sympathische Ermittler Rizzi auf Capri. Und ich muss zugeben, diese Serie hat mich gefangen. Ich mag Rizzi und seine Familie, ich mag das Setting auf Capri, ich mag die Bewohner der Insel und das Lokalkolorit und ich verfolge gerne die Entwicklungen in den Leben von Rizzi und Cirillo. Wird es Cirillo gelingen, wieder eine gute Beziehung zu ihrem Sohn Oscar aufzubauen? Wird sie jemals zu ihrem jungen Geliebten stehen? Wird Rizzis Wunsch, mit Gina eine Familie zu gründen, in Erfüllung gehen? Werden wir je erfahren, weshalb Cirillo auf Capri gelandet ist?
Auf alle Fälle hat mich dieser 5. Fall wieder hervorragend unterhalten. Jetzt beginnt das Warten auf den 6. Fall. Ich freue mich schon jetzt darauf.
Autor: Cecilia Rabess

Alles gut. Wirklich alles gut? - 4 Sterne

Jess hat ihren ersten Job als Analystin bekommen, noch dazu bei Goldman Sachs. Doch ihre Begeisterung hält sich in Grenzen, als sie dort auf Josh trifft, ein Studienkollege, den sie bereits auf der Uni für seine reaktionären Ansichten nicht ausstehen konnte. Doch Josh ist hilfsbereit. Und nach und nach freunden sie sich an. Jess hat es im Job als schwarze Frau nicht leicht, sie hasst ihren Job. Doch sie braucht das Geld, hat einen Studienkredit abzuzahlen und hat keine reiche Familie im Hintergrund. Dazu kommt ihr ständiges schlechtes Gewissen, dass sie sich nicht mehr für die Agenda der Schwarzen engagiert, nicht mehr für sich und gegen Rassismus einsteht.
Josh ist ein netter Mensch, aber er hat konservative Ansichten. Immer wieder ein Diskussionspunkt zwischen den beiden. Dass sich dann auch noch die Liebe einschleicht, macht ihre Beziehung nicht leichter.
Dieser Roman ist sehr leichtfüßig und realistisch erzählt. Der schwierige Einstieg ins Arbeitsleben, das ewige Nachdenken über Geld, die extremen Unterschiede an Voraussetzungen, je nachdem aus welcher Schicht man kommt,… Das ist alles wunderbar eingewebt in die Geschichte. Auch die Frage, wie sehr es möglich ist, eng mit jemandem befreundet zu sein, der politisch so völlig anders eingestellt ist, ob eine Beziehung da überhaupt möglich ist, wird realistisch erzählt. Es kommt immer wieder zu Missverständnissen, falschen Einschätzungen, weil der:die andere sofort in eine Schublade gesteckt wird. Der Alltag in den USA, die Themen und Probleme werden hier lebendig und besser verständlich.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen, einen Stern Abzug gibt es lediglich für ein paar Punkte: Für ein Lieblingsbuch war mir dann die Sprache doch etwas zu einfach und das Hin und Her, die Missverständnisse zwischen Josh und Jess wiederholten sich einmal zu oft.
Das Ende hinterließ mich nachdenklich. Trump wurde zum Präsidenten gewählt, seine Rede ist nicht ganz so reißerisch wie erwartet und Josh meint: „Siehst du. Alles gut.“ Wirklich alles gut? Vor allem für seine schwarze Freundin Jess?
Ob diese beiden den Gegensatz auf Dauer aushalten, wie Jess dieses „Alles gut“ wegsteckt, das erfahren wir nicht mehr. Der:die Leser:in darf sich das selber ausmalen.
Autor: Dominika Meindl

Hallstatt ganz ohne Kitsch - 5 Sterne

Jeder kennt sie. Hallstatt, die Stadt am See, mit dem berühmten Beinhaus, der Saline, den idyllischen Häusern und den Bergen im Hintergrund. Eines der vielen Beispiele von overtourism, überlaufen, überfüllt, für die ursprünglichen Bewohner:innen oft nicht mehr lebenswert.
Hier startet Dominika Meindl ihre Geschichte. Johanna ist nach vielen Jahren in Wien zurückgekehrt in die Heimat, um dort die Arztpraxis ihres verstorbenen Vaters zu übernehmen. Damit brechen auch viele alte Geschichten über sie herein. Schräg gegenüber wohnt ihre Zwillingsschwester Doris. Sie ist nie weggegangen, hat hier die Schule besucht, ihre eigene Tischlerei eröffnet und einen Polizisten geheiratet. So unterschiedlich die Schwestern sind, als Zwillinge haben sie auch eine enge Verbindung, die nach und nach wieder auflebt.
Parallel dazu lernen wir Ren kennen. Nach einer Kindheit in Österreich, wuchs er in China auf und studierte dort. Sein Stiefvater, ein hoher Funktionär, ebnete seinen Weg. Ren ist Berater im Tourismusministerium, entwirft Konzepte für Binnentourismus und Tourismus aus dem Ausland und ist mit dabei, als die grandiose Idee geboren wurde, das bei Chinesen sehr beliebte Hallstatt einfach in China spiegelverkehrt nachzubauen.
Schon die Rahmenhandlung ist skurril und spannend. Aber noch mehr lebt der Roman davon, wie uns die Autorin ihre Charaktere näherbringt. Sie sind sehr menschlich gezeichnet, haben Zweifel und Ängste, Fehler und gute Seiten. Man kommt ihnen schnell nahe und lebt mit ihnen mit. Wie es für Johanna ist, wieder zurück zu sein, wie Doris einerseits ihren Beruf liebt und andererseits oft an ihre Grenzen stößt, wie Ren seine Ideen entwickelt, was er beobachtet.
Ganz nebenbei fließt auch ganz schön viel Gesellschaftskritik ein, über Tourismus, über die globale Welt, über das Leben von Migrant:innen,… Doch nie mit dem Holzhammer, sondern immer sehr stimmig eingebettet in diese spannend erzählte Geschichte.
So kommen in diesem gelungenen Roman sehr viele Ebenen, sehr viele Geschichten und Themen vor, ohne dass er überladen wirken würde. Das Buch ist skurril, humorvoll, aber eben auch voller ernster Themen. Und in keinem Moment kitschig.
Ich habe ihn von der ersten Seite an mit Begeisterung gelesen. Für mich eins der Lieblingsbücher bisher in diesem Jahr!
Autor: Vescoli, Christine

Auf den Spuren der Mutter - 3 Sterne

Die Mutter ist gestorben und die Tochter macht sich auf die Suche nach der Geschichte hinter den Geschichten, die die Mutter erzählt hat. Es ist auch die Suche nach dem „Nichts“, das die Mutter immer wieder überkommen hat.
Es ist aber keiner mehr da, den man fragen könnte. So muss sich dich Tochter aus den wenigen Fragmenten, die ihr blieben, Bilder, Bemerkungen, kleine Hinweise begnügen und kann nur mutmaßen, wie es wirklich war. Die Mutter hatte nur erzählt, dass es ihr gut ging, dort, wo sie war. Die Wahrheit dahinter hat sie nie erzählt. Es ist im Nichts verschwunden.
Das Thema ist spannend, eine Spurensuche nach dem Leben der Mutter, die als 4-jährige weggeben wurde. Damals nicht unüblich, wenn es zu viele Kinder waren und das Geld nicht reichte. Aber warum sie als einzige? Und warum nahm man sie nicht zurück als es aufwärts ging?
Leider konnte mich die Erzählweise nicht wirklich begeistern. Die Sprache passte für mich nicht ganz zur Geschichte. Sehr poetisch, aber für mich an manchen Stellen etwas zu bemüht literarisch. Und auch die Geschichte dreht sich zu sehr um sich selbst. Es ist, gepaart mit der nicht einfach zu lesenden Sprache, oft recht schwierig, dem Erzählverlauf zu folgen. Wenn da die weitschichtige, zahlreiche Verwandtschaft auf einem Foto bis ins Detail erklärt wird, steigt man irgendwo aus. Zu viele verschiedene Lebensgeschichten, die verschwimmen und die man nicht auseinander alten kann. Eine Suche, die zu keinem Ergebnis kommt und bei der sich auch nicht ganz erschließt, was uns die Autorin sagen will.
Mich hat Mutternichts nicht wirklich überzeugt.
Autor: Ann Napolitano

Schwestern - 5 Sterne

Die Schwestern Padavano stehen sich sehr nahe. Sie teilen alles, lieben ihr Leben zusammen. Da ist Julia, die älteste. Sie weiß immer eine Antwort, scheint alles lösen zu können und einen Plan zu verfolgen. Sylvie ist nur wenig jünger. Sie ist die Leseratte in der Familie, manchmal schleicht sie sich sogar aus dem Unterricht, um im Park zu lesen. Emeline und Cecelia sind Zwillinge. Eine ohne die andere ist undenkbar. Während Emeline die ruhigste und häuslichste der vier Schwestern ist, ist Cecelia die Künstlerin der Familie. So unterschiedlich sie auch sind, so eng verbunden sind sie auch.
Als Julia ihren ersten Freund kennenlernt, ist es selbstverständlich, dass William den Schwestern sehr schnell vorgestellt wird. Herzlich und mit viel Temperament wird er in die Familie Padavano aufgenommen. Eine völlig neue Erfahrung für den vereinsamten jungen William, dessen Eltern den Tod der Schwester nie verkraftet hatten und William keine Wärme und Nähe geben konnten.
Alles sah nach einem vorgezeichneten Leben aus. Julia und William heirateten, die Schwestern immer in der Nähe. Doch manchmal kommt es im Leben anders.
Diese Familiengeschichte rund um die Padavano Schwestern und William wird von ihrer Jugend bis ins Erwachsenenalter erzählt. Wir erleben Höhen und Tiefen, werden immer mehr Teil dieser Familie, leiden mit und hoffen. Voller Wärme erzählt die Autorin diese Geschichte. Und dennoch wirken ihre Protagonist:innen sehr real, sie haben Ecken und Kanten, machen Fehler, versuchen ihr Bestes und scheitern dennoch manchmal.
Sehr schön gemacht auch, wie immer wieder Zitate aus der Literatur ihren Einzug finden. Einerseits Gedichte, vor allem von Walt Whitman, den der Vater der Mädchen verehrte, aber auch auf Alcotts Little Women wird immer wieder Bezug genommen. Da streiten sich die Mädchen, wer welche Schwester aus Little Women ist. Und ein wenig erinnert auch die Konstellation der vier Padavanos an die Schwestern aus Little Women, ohne dass diese Geschichte eine Neuerzählung in der Gegenwart ist.
Ich habe diesen Roman wirklich sehr genossen. Er ist wunderschön erzählt, sehr menschlich, eine Geschichte, bei der man lachen und weinen muss.
Für mich Lesegenuss pur!
Autor: Lana Lux

Tiefe Freundschaft oder doch etwas anderes? - 5 Sterne

Philipp wiederholt gerade die 3. Klasse, er hat eigentlich nur einen Wunsch, endlich einen besten Freund. Er tut sich schwer mit anderen Kindern, dass er immer noch ab und zu in die Hose macht, erleichtert ihm den Umgang mit anderen nicht. Mit seinen roten Haaren fällt er zusätzlich auf. Als eines Tages Faina, ein ukrainisches Flüchtlingsmädchen in seiner Klasse landet, die ebenso rote Haare hat wie er, sieht er seine Chance gekommen. Nach und nach freundet er sich mit ihr an. Endlich hat er eine Freundin, eine beste Freundin.
Die Freundschaft begleitet sie ihr ganze Kindheit und Jugend, man hat den Eindruck, dass sich diese beiden durch ihre schwierigen Familienverhältnisse tragen. Philipps Mutter ist Alkoholikerin, zeitweise lebt er bei der Tante, die wenig verständnisvoll ist. Fainas Eltern sind ebenfalls wenig liebevoll, einzig Fainas Leistung zählt.
Doch dann kommt es zum Bruch. Faina geht nach Berlin, ihr ist Philipps obsessives Verhalten und seine Bevormundung zu viel. Bis sie nach ein paar Jahren wieder vor seiner Tür steht. Ungewollt schwanger, mit Schulden, von ihrer Familie einmal mehr im Stich gelassen.
Dieser Roman behandelt sehr viele Themen. Es geht um dysfunktionale Familien, um tiefe Freundschaft, um seelische Schäden, um toxische Liebe, um psychische Erkrankungen. Und wir tauchen immer weiter ein, in die Tiefen traumatisierter Menschen.
Spannend ist auch die Erzählweise. Während zuerst Philipp aus seiner Sicht erzählt, wir dann Fainas Sicht lesen, wechseln sich am Ende die beiden Erzählstimmen ab. Je mehr wir wissen, desto weniger kann man als Leser:in sicher sein, was die Wahrheit ist, wo die Probleme wirklich liegen. Vieles ahnt man, will man nicht wahrhaben, bevor es an die Oberfläche tritt. Und wie die Protagonistin entschuldigen wir so manches Verhalten. Das ist sehr gut gemacht und lässt erahnen, dass der Ausstieg aus toxischen Beziehungen, das Verarbeiten von schweren Kindheitstraumen
Autor: Eve Harris

Leben in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde - 5 Sterne

Sie haben sich nur drei Mal gesehen, sich nicht berührt und dann geheiratet. Wie es sich für eine sittsame Frau in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde gehört. Diese Geschichte wird im ersten Buch der Autorin „Die Hochzeit der Chani Kaufman“ erzählt.
10 Monate später treffen wir sie wieder. Baruch und Chani lieben sich, sie sind auch glücklich miteinander. Doch Chani kann dieses Glück nicht genießen. Sie ist noch immer nicht schwanger. Als Frau eines zukünftigen Rabbis muss sie unbedingt Kinder bekommen, der Druck der Gemeinschaft ist groß und es gibt nichts, was sich Chani mehr wünscht als endlich schwanger zu werden.
In ihrer Verzweiflung wenden sie sich an die Schwiegermutter, um einen Besuch in einer Kinderwunschklinik zu finanzieren. Ein schwerer Schritt.
Als Gegenpol dazu wird auch Rivkas Geschichte weitererzählt. Sie hat den Schritt aus der orthodoxen Gemeinde gewagt, sie ist ausgestiegen, weil es nicht mehr ging. Ein schwerer Schritt, denn ihre Kinder blieben bei ihrem Mann. Nur der älteste Sohn, der in Jerusalem lebt, spricht mit ihr. Die Tochter kann ihr nicht verzeihen und den jüngsten Sohn lässt man nicht mit ihr sprechen.
Beide Frauen, so unterschiedlich ihr Weg auch ist, stehen an einem schwierigen Punkt, der gerade ziemlich ausweglos scheint und an dem es gerade keine Hoffnung zu geben scheint.
Wie sich alles entwickelt, ob die Frauen ihre eigenen Kräfte und Ressourcen entdecken, ob es für Chani ein Kind und für Rivka mehr Freude an der „Freiheit“ und wieder Kontakt mit ihren Kindern gibt, das wird hier natürlich nicht verraten.
Der Roman ist sehr schön geschrieben, sehr menschlich, alle Protagonistinnen haben ihre Schwächen und Stärken. Besonders gefallen haben mir auch die vielen Nebenfiguren, zum Teil liebenswert, zum Teil machen gerade sie den Frauen das Leben schwer.
Großartig fand ich auch die Differenziertheit und Vielschichtigkeit, mit der erzählt wird. Natürlich ist die jüdisch-orthodoxe Welt eine intolerante, enge, frauenfeindliche Welt. Und dennoch mal die Autorin nicht Schwarz-Weiß. Man kann gut nachvollziehen, warum es so schwer ist, wenn man aussteigen will, aber auch, was schön daran ist, wenn man Teil davon ist. Sie erzählt kritisch, aber ohne zu (ver)urteilen.
Es ist eine fremde, unbekannte Welt. Doch Eve Harris schafft es, dass man in sie eintaucht und ein Teil davon wird.
Ein sehr schöner, spannender Roman. Ich war wieder begeistert, wie schon vom ersten Roman, „Die Hochzeit der Chani Kaufman“.
Autor: Iris Wolff

Vom Bleiben und Gehen - 4 Sterne

Iris Wolff hat mich mit ihrem Roman „Die Unschärfe der Welt“ über eine Familie im Banat völlig begeistert. Deshalb wurde ich auch auf ihren aktuellen Roman aufmerksam. Wieder steht im Mittelpunkt ein Protagonist, der Vorfahren in der deutschsprachigen Minderheit hat. Lev ist noch zur Zeit der Diktatur geboren, ist jung, als die Grenzen geöffnete werden. Er ist aber einer, der bleibt. Bis er sich endlich überwindet und Kato in der Schweiz besucht und mit ihr nach Frankreich fährt.
Damit startet der Roman. Das Wiedersehen, die Begegnung von Kato und Lev, beide jung, aber nicht mehr ganz jung. Sie ist Künstlerin, verdient ihr Geld als Straßenmalerin, er arbeitet in Rumänien für ein Sägewerk. Es hat so lange gebraucht, bis die Zeit reif wurde, dass er zu ihr fährt. Und das, obwohl sie seit ihrer Kindheit eng verbunden sind. Sie sind zusammen zur Schule gegangen, sie waren sich sehr nahe, aber Kato wollte Freiheit, Lev bleiben.
Sprachlich und thematisch ist der Roman ein großer Genuss. Wir erfahren viel über die Vielfalt der Kulturen in Rumänien, die wechselhafte Geschichte, über den Alltag, was die Menschen bewegt. Wir lernen Lev in unterschiedlichsten Lebenslagen kennen, seine Gedanken, das, was ihn beschäftig. Aber auch Nebenfiguren werden lebendig gezeichnet und erzählen spannende Geschichten.
Der Roman wird nicht chronologisch erzählt, es gibt Zeitsprünge vor und zurück. Und auch viele Auslassungen. Geschichten werden anerzählt, aber nicht zu Ende geführt.
Hier liegt für mich auch der Kritikpunkt. Ich mag es, wenn nicht chronologisch erzählt wird, aber hier fand ich es oft schwer einzuordnen und mitzukommen, in welcher Zeit man sich gerade befindet. Und auch die Lücken waren mir zu groß. Ein wenig mehr an Zusammenführung der Erzählfäden hätte ich mir gewünscht.
Dennoch ein sehr schön erzählter, schön zu lesender Roman! Ein guter Start ins Bücherjahr 2024!