Rezensionen

Rezensionen von haga

Autor: Auster, Paul

Baumgartners Rückschau - 3 Sterne

Das neue und vielfach gepriesene Buch des bekannten Schriftstellers Paul Auster (New York Trilogie) enttäuscht. Es beginnt zwar furios mit der Darstellung eines chaotischen Tages eines vielleicht dement werdenden Philosophen, dann wird es aber zäh den alten Mann weiter zu begleiten. Wir erfahren vom Tod seiner Frau durch Ertrinken, ihren schriftstellerischen Ambitionen, Beispiele dafür wirken in den Text hineinkopiert, ihrer großen Liebe, nach deren jähem Ende Baumgartner an seelischem Phantomschmerz leidet. Das Buch schleppt sich weiter über die oberflächliche Darstellung von wenig spektakulären Familiengeschichten und einer nüchternen Lebensbilanz und endet in der Vorfreude des alten Herrn auf eine Dissertantin, die das Werk seiner Frau bearbeiten will. Wir lesen über ein letztes kreatives Aufbäumen von S. T. Baumgartner vor der kognitiven Verflachung, eine letzte Hinwendung zur Welt vor der drohenden Vereinsamung, eine letzte Aufbruchstimmung nach Jahren der Trauer, die an einem Baum endet.
Autor: Gaea Schoeters

Die Rache des ausgebeuteten Kontinents - 5 Sterne

Hunter White ist reich, so reich, dass es ihm gelingt eine Abschusslizenz für ein Nashorn, das letzte Tier der Big Five, das ihm auf seiner Jagdliste noch fehlt, zu bekommen. Er reist nach Afrika und wird von Fährtenlesern und Van Heeren, dem Organisator der Jagd, zum Nashorn gebracht. Doch Wilderer kommen dem Abschuss zuvor. Van Heeren führt den enttäuschten Hunter an die Idee heran stattdessen einen Menschen zu jagen und bereitet raffiniert ein geeignetes Opfer aus einem Buschmannstamm vor. Hunter erliegt der bizarren Verlockung, nimmt das Angebot an und verfolgt einen vorher vom Stamm ausgewählten jungen Mann, als Gegenleistung für ein Reservat, das ihnen Van Heeren freigekauft hat. Ein ungleicher Kampf mündet in den Tod des Buschmanns und nach Tagen des Delirs nach einer Vergiftung und Infektion auch in den Tod von Hunter. Er im Sarg und der tote Buschmann in der Trophäenkiste werden von Hunters Frau in Amerika entgegengenommen. Die Arroganz der gierigen Jäger erinnert an die Arroganz der Kolonialisten und kulminiert in den beiden subtil gezeichneten Figuren Hunter und Van Herren, der ausgebeutete Kontinent nimmt auf eine besondere Art Rache. Ein nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich faszinierendes Buch.
Autor: Anna Neata

Sprünge, Auslassungen und Vernebelungen - 5 Sterne

Margarethe, Elli, Alexandra, Eva. Vier Frauen, Mütter und Töchter, vier Generationen einer Salzburger Familie, miteinander tief verbunden durch ähnliche Konflikte und unbewältigte Lebensthemen, die sie von Generation zu Generation weitergeben. Sie suchen ihr Seelenheil in kollusiven Beziehungen zu ihren Partnern, werden ungewollt schwanger, es kommt zu Abtreibungen, die Nebenpartner machen sie auch nicht glücklich, sie kommen miteinander nicht ins Gespräch, beschweigen die wirklich relevanten Themen, die Geheimnisse landen in Kisten. Auch als Leser kommt man nicht in Kontakt mit den Protagonistinnen, kaum hat man sich einer angenähert, wechselt die Autorin die Sprache und die Generation, macht einen Zeitsprung, und man vertieft sich die nächste Biographie, bis das Erlesene sich wieder auflöst. Durch die Sprünge und Auslassungen und Vernebelungen entsteht kein roter Faden, sondern ein ungelöster, transgenerational weitergereichter Themen- und Identitätsbrei – das Packerl, das in Eva, der vorerst letzten Generation in Selbstverletzung, Depression, Psychiatrieaufenthalten und innerer Leere kulminert. Ein Buch über die Schwierigkeit der Generationen miteinander in Kontakt zu kommen, die unbewusst tradierten Pseudolösungen seelischer Konflikte fruchten nicht, zuletzt sitzt Eva im Ringen um ihre Identität vor der Kiste mit der Familiengeschichte, befriedigt sich selbst und macht sich dann (vielleicht) an die Arbeit. Ein anstrengendes, irritierendes und zuletzt traurig machendes Buch.
Autor: Julia Jost

Karawankenzahn - 5 Sterne

Südkärnten. Dörfliches Milieu. 80er, 90er Jahre. Ein 11-jähriges Mädchen spielt Verstecken. Während die beste Freundin herunterzählt, blickt die Protagonistin in ihrer Biographie bissig, entblößend und humorvoll zurück und lässt die Leser*innen an Dorftragödien, kindlichen Ängsten, Fantasien und Träumen, schrägen Familienepisoden und unreifem Verhalten von Erwachsenen teilhaben. Dass die Identitätsfindung gelingt, liegt nicht an der Identifikation mit den Erwachsenen, die zu sehr und oftmals ratlos mit sich selbst beschäftigt sind, glückender Interaktion oder gar Erziehung, sondern schlicht am selbstbewussten und achtsamen Umgang eines auf das Leben neugierigen Kindes mit sich selbst in einer bizarr-bunten Welt. Diese ist bevölkert von Menschen, deren oft groteskes und schauspielerisches Sosein, wenn man nicht von ihnen abhängig wäre, sehr unterhaltsam und lehrreich sein könnte. Wenn man die Begegnungen mit diesen Mitmenschen überlebt, beginnt man sie zu lieben.
Autor: Emma Cline

Warum ist Alex so? - 5 Sterne

Wir wissen nicht viel von Alex. Sie ist 22 Jahre alt, jobbte früher im Gastgewerbe und schlug sich so durch, zuletzt als Callgirl. Sie nimmt Drogen, wann immer es Gelegenheit gibt und rettet sich aus sich zuspitzenden Problemen wegen Schulden und Diebstahl in eine neue Beziehung mit Simon, einem etwa 50jährigen sehr wohlhabenden Mann, der sie in sein Sommerhaus einlädt. Alex sieht gut aus, kann sich durchaus raffiniert und intuitiv an die Welt der Reichen anpassen und hofft in der Nähe Simons einen angenehmen Sommer zu verbringen. Doch, ein Fehltritt – bekleidet und betrunken mit dem Mann der Gastgeberin einer Party im Pool –, und Alex verliert Simons Zuneigung. In der Hoffnung auf Versöhnung und wohl auch Liebe und nicht nur Sex schlängelt sich Alex bis zur nächsten Party am Strand entlang. Sie trickst und driftet und benutzt und hinterlässt Chaos und Zerstörung. In die von der Autorin entblößte Welt der Reichen und Schönen passt sie nicht, echte Begegnungen und Selbstreflexion sind ihr fremd, aus Raffinesse wird kindliche Sehnsucht, aus Gaunerei Kriminalität. Die Fassade bröckelt. Wird Simon sie überhaupt noch erkennen? Und wie wurde Alex zu dieser ständig nach einem Platz im Leben suchenden Frau?
Autor: Anthony McCarten

Untertauchen! - 5 Sterne

Wer kennt es nicht? Das inzwischen schon 40 Jahre alte Spiel Scotland Yard von Ravensburger. Nach diesem Rezept funktioniert das Buch. Das CIA bietet gemeinsam mit der Privatfirma WorldShare jeder Person, die es schafft im Rahmen des „Going Zero-Betatests“ 30 Tage unterzutauchen, 3 Millionen Dollar. Fünf Expert*innen aus dem Bereich Cyber- und Private Security und fünf Privatpersonen wurden von einer Jury für diesen Test ausgewählt. Die technischen Mittel, die eingesetzt werden, um die „Zeros“ zu finden, sind vielfältigst und reichen von Gesichtserkennung, Überwachung auf jegliche Art, Analyse von Verhalten und Einstellungen bis zu Hacken von technischen Geräten, Drohnen … Neun Zeros werden entdeckt, nur eine Frau entgeht dem immer enger werdenden Netz und deckt indirekt globale verbrecherische Machenschaften der beteiligten Privatfirma auf. Ein sehr spannender Science-Fiction-Krimi im Spannungsfeld Geld- und Machtgier und Ethik, der wohl schon gegenwärtig sich so abspielen könnte.
Autor: Bonnie Garmus

Ein Appell auch für Männer! - 5 Sterne

Elisabeth Zott, eine intelligente, gleichzeitig attraktive Frau, ist nicht bereit sich dem erwarteten Frauenrollenbild der 50er und 60er Jahre in den USA zu fügen. Sie sagt, was sie denkt und fühlt, ordnet sich nicht unter und lässt sich weder vom Schicksal (Tod des geliebten Mannes), noch von der frauenerniedrigenden Männerwelt, noch von diffamierenden Intrigen und kränkenden Zeitungsartikeln brechen. Die gelernte und leidenschaftliche Chemikerin und Spezialistin für die spontane Entstehung von Leben (Abiogenese) erteilt in einer zunehmend erfolgreichen Kochshow den Frauen Amerikas Unterricht in Chemie der Lebensmittel, in Chemie zwischenmenschlicher Beziehungen, in Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung. Eine Feministin im Kampf um Emanzipation? Nein, diese Begriffe kommen im Buch nicht vor, eine mutmachende und um Anerkennung weiblicher Denk- und Fühlweise, aber vor allem um ihren eigenen Platz in der Welt kämpfende Frau, die sich nie verbiegt und anpasst. An ihrer Seite ein kluger Hund, der 981 Begriffe kennt, eine hochintelligente Tochter, ein Pfarrer mit Weitblick, eine aus dem Alltag ausbrechende Nachbarin und weitere Wesensverwandte, die zuletzt jene Familie formen, die Elisabeth zuvor nie hatte. Ihr unerbittliches Stehen zu sich und ihrer Weltsicht geht zuletzt auf, sie erfährt Gerechtigkeit und Anerkennung. Ein Märchen im Amerika der 60er Jahre, ein Lehrgang in Chemie und deren Amplifikation, ein Appell zu Mut und Veränderung, sonst droht die Anti-Abiogenese, der Verlust von Vitalität und Spontanität.
Autor: Antoine Wilson

Jeff lügt. Lügt Jeff? - 5 Sterne

Jeff sieht am Strand von Santa Monica einen leblos im Wasser treibenden Körper, zerrt ihn ans Ufer, und es gelingt ihm den Fremden wiederzubeleben. Über das Einsatzprotokoll der Wasserrettung erfährt er Tage später den Namen, recherchiert zur Identität des Geretteten und versucht mit Francis Arsenault, einem bekannten Galeristen, Kontakt aufzunehmen. Er bekommt eine Stelle in dessen Galerie, beginnt eine Beziehung mit seiner Tochter Chloe, noch bevor Jeff und Francis ein Wort gewechselt haben, noch bevor Jeff weiß, ob sich Arsenault an ihn, seinen Lebensretter, überhaupt erinnern kann. Francis versucht durch einen Schiurlaub seine Frau und Tochter versöhnlich zu stimmen, als seine Affäre mit einer jungen Künstlerin publik wird. Er verstirbt während des Schifahrens mit Jeff an Herzversagen. Oder gibt es eine andere Ursache? Der Autor lässt Jeff, der nun schon Francis Galerie übernommen hat, am Flughafen einen Bekannten aus der Studentenzeit treffen, dem er diese Geschichte erzählt. Doch stimmen die Ereignisse so? Der Autor, trainierter kreativer Schreiber, erzählt eine ungewöhnliche Geschichte, deren Spannung aber nicht im Beschriebenen, sondern im Unausgesprochenen, im Ungesagten besteht. Er lässt es anwachsen und zum rätselhaften Mittelpunkt der Geschichte werden, die Zweifel an der Geschichte verdichten sich, bis im letzten Satz die Blase (fast) platzt. Wer ist dieser Jeff, der vermeintliche Retter? Wer ist dieser nun tote Francis wirklich? Führen alle ein Doppelleben? Welche Menschen stecken hinter den Rollen und Masken und wie gestalten sie ihre Beziehungen? Oder fängt alles nur mit einem ersten Schweigen an?
Autor: Philipp Oehmke

Showdown in Bennis Garten - 5 Sterne

Ruth und Hans-Harald, beide um die 80 Jahre alt, blicken stolz auf ihr Leben zurück. Drei erwachsene Kinder, zwei Enkelsöhne, vordergründig befriedigende Biographien, er pensionierter Oberstaatsanwalt, sie nach den Kindern doch noch Dozentin für Literatur an einer Universität. Ein sozial gut integriertes Paar im letzten Lebensabschnitt. Ihr zweitgeborenes Kind, die bisexuelle Tochter Karolin, will in Berlin eine Buchhandlung, spezialisiert auf die LGBTQIA-Leserschaft eröffnen und lädt die ganze Familie dazu ein, sogar Bruder Chris reist mit seiner Freundin aus New York an und auch der jüngste Sohn Benjamin (37) mit Frau und Söhnen. Die Eröffnung gerät zum Fiasko, wegen vermeintlicher Involviertheit des Vaters von Ruth in Nazi-Verbrechen und dem aus seinem Erbe finanzierten Buchladen werfen Aktivist: innen Farbbeutel auf die Scheiben. Die Wogen vor Ort, noch mehr aber in den sozialen Medien gehen hoch, die Wellen treffen alle Familienmitglieder mit Wucht. Im Buch werden alle Protagonist: innen vor den Vorhang und ihre biographischen Ab- und Hintergründe ins Rampenlicht gezerrt. Eine spannende Familiensaga über vier Generationen wird entwickelt, in deren Mittelpunkt das Verschweigen des Unangenehmen, das jahrzehntelang Unausgesprochene und die Tendenz zum Zudecken und Schönreden stehen, vor allem konsequent gelebt von Ruth, die eine jahrelange Affäre vor ihrem Mann und ihren Kindern verheimlicht hat. Doch es reicht zurück bis zu ihrem Vater, der, stellvertretend für Deutschland, nach dem Krieg im wiedererstarkenden Deutschland keine Zeit hat sich mit seiner Rolle im Dritten Reich auseinanderzusetzen und setzt sich transgenerational fort im Umgang mit Gefühlen und Ängsten und Geheimnissen in der dritten Generation, die zu echter Beziehung und authentischem Miteinander nicht in der Lage zu sein scheint. Das Buch verführt in eine Welt der Reichen und reduziert eine komplexe Soziodynamik zu sehr und vereinfachend monokausal auf die Entscheidung von Ruth, hier drängt sich die Frage nach der "Neurose des Autors" auf, der im Buch jede Beziehung scheitern lässt und die Bedürfnisse von Kindern nach Mentalisierung im Sumpf der Gefühlswelt der Nachkriegsgeneration erstickt oder zumindest ihre Identitätsfindung erschwert. Und doch, der Sog in diese Familie hält bis zum letzten Kapitel an und man fiebert dem Showdown in Bennis Garten entgegen.
Autor: Markus Orths

Loplop - 5 Sterne

Eine kluge Reihenfolge: zuerst die Ausstellung incl. kompetenter Führung zu Max Ernst im Stadtturm von Gmünd besuchen, dann die nüchterne, eher faktenbasierte Biographie von Lothar Fischer lesen und nun eintauchen in das wunderbare Buch „Max“ von Markus Orths, erstmals erschienen 2017. Die Biographie Max Ernsts wird verwoben mit den Biographien der sechs wichtigsten Frauen in seinem so facettenreichen Leben: alles außergewöhnliche Frauen mit außergewöhnlichen Biographien. In der chronologischen Zeitreise ausgehend von Max Ernsts Heimatstadt in Deutschland und dem inneren wie äußeren Abschied von der Welt des Vaters begleiten wir ihn während der stetigen Entwicklung seiner künstlerischen Ausdruckskraft und neuer kreativer Techniken immer auf der Suche nach der tief im Menschen verankerten unbewussten Ur-Kraft und Ur-Sehnsucht. Er trifft auf später berühmte Zeitgenossen, er trifft auf Frauen, deren Biographien sich der seinen annähern, mit seiner verflechten, und bis auf die von Dorothea Tanning meist dramatisch enden. Max Ernsts Lebensreise führt von Deutschland zuerst nach Paris, dann tiefer nach Frankreich hinein, nicht zuletzt auf der Flucht vor den Nazis und den Schrecken des Krieges - das Trauma des ersten Weltkriegs darf sich nicht wiederholen - über Spanien nach Lissabon und schließlich mit Hilfe von Peggy Guggenheim nach Amerika und zu Erfolg und Ruhm, eine Reise durch das 20. Jahrhundert. Ein sehr schönes, umfassend recherchiertes, detailreiches Buch, es bleibt ein Gefühl der Rührung angesichts der Entwicklung des Kindes „Loplop“ im Mann.